ivona jelcic: hüttenzauber 4.0
Der Soziologe Zygmunt Bauman (1925 – 2017) attestierte der Welt in dem Buch „Retrotopia“ eine „Nostalgie-Epidemie“: Weil der Glaube an eine bessere Zukunft erloschen ist, blüht die Sehnsucht nach einer vermeintlich guten alten Zeit ohne jene fremden Bedrohungen, die Populisten so gerne an die Wand malen. Bloß hat es dieses ersehnte Gestern so noch nie gegeben, weshalb es auch nicht wiederholbar ist.
Dass sich dennoch gerade die Alpen besonders gut für nostalgische Verklärung eignen, ist eben so plausibel wie paradox. Sie stehen für die romantische Vorstellung elementaren Naturerlebens und gelebter Tradition. Aber erst die Erfindung des modernen (Massen-)Tourismus hat für ihre BewohnerInnen den Weg in einen gewissen Wohlstand geebnet. Bei der Schaffung touristischer Angebote wiederum bedient man sich gern aus dem Baukasten knorriger Pseudo-Authentizität.
Sicher: Längst hat auch eine qualitätvolle zeitgenössische Architektur den Weg bis hinauf in die Gefilde der hochalpinen Schutzhütten gefunden. Weiter unten, dort, wo der Gast heute gern aus der privaten Stube direkt auf die Skipisten und Wanderwege purzelt, macht sich indes wieder ein „Hüttenzauber“ breit, der weit mehr Fragen als nur solche zur Baukultur aufwirft. Der Drang zum Rückzug ins Private will auch in den Ferien gestillt werden, luxuriös ausgestattete Chalets und Almhütten sind die Antwort darauf. Man könnte aber auch sagen: Die In-Wert-Setzung der alpinen Landschaft hat eine neue Stufe erreicht, stehen ganze Chalet-Dörfer doch Modell dafür, wie sich gleich doppelt Kapital aus ihr schlagen lässt. In vielen Fällen stehen hinter den Bauprojekten finanzkräftige Investoren, die Häuser werden dann einzeln verkauft und die versprochenen Renditen für die betuchten Käufer durch deren Vermietungen geschaffen, die eigene Betreiberfirmen übernehmen.
Es knistert also im Kamin, knirscht aber im Gebälk. Denn während in Werbeprospekten der „alpine Dorfcharakter“ aus der Retorte gepriesen wird, regt sich im realen dörflichen Umfeld der Hütten-Ensembles auch in Tirol immer öfter Widerstand. Aus unterschiedlichen Gründen: Umwelt- und Infrastrukturprobleme, die Sorge, dass durch die Hintertür Freizeitwohnsitze auf billigem Tourismusgrund entstehen, Bedenken über Bodenverbrauch und die Entwicklung der Bodenpreise gehören dazu.
In einem Retrotopia mag man solche Fragen im Plumpsklo versenken. In Tirol, wo bekanntlich Bodenknappheit eine der größten politischen Herausforderungen ist, gab es Ende 2018 mangels exakter Definition von Chalet- und Almhütten-Dörfern noch nicht einmal genaue Zahlen: Auf tirolweit 30 bis 40 schätzte sie ein Tourismusexperte vor kurzem in der Tiroler Tageszeitung. Weitere sind im Bau. Eines davon in Steinach am Brenner unter der Autobahn, dafür mit direkter Anbindung an Skilift und „Tunnelwelten“, dem „Infotainmentcenter“ zum Brennerbasistunnel, der bekanntlich in nicht mehr so ferner Zukunft Verkehrsentlastung bringen soll. Man darf gespannt sein, wie sich die Preise entwickeln. Eine knapp über 100 Quadratmeter große Hütte im Chaletdorf Bergeralm wurde im Jänner auf Immobilienwebsites für rund 320.000 Euro angeboten. In etwa so viel kostete eine gleich große Dreizimmerwohnung in Steinach.