ivona jelčić: retro-kitsch trifft satteldach
Gäbe es ein Ranking der scheußlichsten Gewerbezonen-Geschwüre, die um österreichische Orte wuchern, Wörgl wäre sicher ganz vorne mit dabei. Die über viele Jahrzehnte hinweg zugelassenen Verbauungen der Wörgler Ortsränder sind ein Trauerspiel, aber offenbar nicht traurig genug, um aktuell wenigstens in Downtown Wörgl konsequent auf baukulturelle Qualität zu setzen. Dabei hatte sich die Gemeinde Anfang der 2000er-Jahre sogar einmal einen eigenen Gestaltungsbeirat geleistet. Der wurde nach wenigen Jahren aber wieder aufgelöst, weil man sich – so stand es damals in der Lokalpresse zu lesen – nicht von „Universitätsprofessoren aus Wien“ sagen lassen wollte, „was schön ist und was nicht“. Wie es scheint, lässt man sich das dafür von privaten Bauherren sagen. Jüngstes Ergebnis: Eine schneeweiße Retro-Fantasie mit mächtigen Rundbogenfenstern, pseudo-barocken Balustraden, Gesimsen und einer aufgesetzten Kugel, die bei Erscheinen dieses Textes auch noch eine goldene Glasur erhalten haben wird.
In dem an prominenter Stelle in der Wörgler Bahnhofstraße errichteten „Ärztehaus Stawa“ sind Ordinationen, Wohnungen und eine Fläche für Gastronomie untergebracht. Geplant wurde es von Haselsberger Architekten nach Wünschen eines Bauherrn, der als Inhaber der benachbarten Stawa Apotheke offenbar dem architektonischen Zuckerguss verfallen ist. Die Apotheke wurde 1905 als „Villa Edelweiß“ errichtet und stellt ein üppig mit Gold und Zierrat ausgestattetes Beispiel für großbürgerliche Wohnträume aus der Zeit um 1900 dar. Ein von vielen Wörgler*innen geliebtes, von manchen auch als kitschiges Märchenschloss belächeltes Kuriosum, das mit dem Ärztehaus offenbar einen „repräsentativen“ Nachbarn erhalten sollte.
Wogegen es durchaus Widerstände gegeben hat: Nicht nur die Wörgler Grünen sprachen von einem „negativen Architekturhighlight“, auch der Gestaltungsbeirat des Landes, der im Vorfeld immerhin um Stellungnahme gebeten wurde, hatte dringend empfohlen, auf ortsfremde Elemente wie die hohen Fassadenfenster und die erwähnte Goldkugel zu verzichten und bei der architektonischen Gestaltung auf das vorhandene Umfeld – vorwiegend Gebäude mit Satteldach und einfacher, verputzter Lochfassade – Bezug zu nehmen. Drauf gepfiffen: Wo das Nachbardach im Weg war, wurde es kurzerhand abgesägt, wo sich die Stadt eigentlich einen Durchgang Richtung Westen gewünscht hätte, um die Option auf erweiterte Fußgänger- bzw. Begegnungszonen offenzuhalten, hat der Projektbetreiber erfolgreich gemauert. Statt zukunftsfähig zu bauen hat man eine Rolle rückwärts in ein architektonisches Disneyland namens Pseudo-Historismus gemacht.
Denn was sind schon baukulturelle Empfehlungen, Fragen zum Ortsbild und städtebauliche Überlegungen gegen die Edelkitsch-Architekturträume eines Einzelnen? In Wörgl sind sie offenbar wenig wert.
Text: Ivona Jelčić, aus aut: info 1/23