neues bauen in tirol 2006
ausstellungDie Ausstellung zeigt sämtliche zur Auszeichnung eingereichten Projekte und bietet damit einen repräsentativen Querschnitt durch die Tiroler Architekturlandschaft der unmittelbaren Vergangenheit.
weiterlesen …ein aut: feuilleton, erschienen in aut: info, nr. 1/2007
Schon seit Jahren fällt mir auf, dass ausländische Gäste, die bei mir wohnen, am Abend vor dem Schlafengehen fast immer ein paar Bücher aus meinem Regal nehmen. Ohne Ausnahme handeln diese Bücher von Themen, die ihr Heimatland betreffen. Ich nehme einmal an, dass man sich vor der Nachtruhe in einem fremden Land noch zuhause fühlen will. Ich selbst bin diesbezüglich zu stolz, aber ich muss gestehen, dass ich, seit ich in Österreich lebe, mich ein paar Mal dabei erwischt habe, wie ich für meine Freundin deutsche Übersetzungen niederländischer Literatur gekauft habe, wahrscheinlich in der unbewussten Hoffnung, dass ich die Bücher meiner Jugend vor dem Einschlafen noch kurz sehen kann.
Mit der Architektur ist es etwas anders. Es ist nicht so, dass ich in einer schlaflosen Nacht noch einmal kurz aufstehe, um mir das Umspannwerk von Ben van Berkel hier in Innsbruck anzusehen, obwohl es sich nicht weit von meiner Wohnung befindet und wahrscheinlich eine seiner besten Arbeiten überhaupt ist – so versteckt wie es sein mag. Ich finde das Umspannwerk deswegen interessant, weil es ein Infrastrukturgebäude ist, das trotzdem mit größter Sorgfalt vom Bauherrn und von der Politik behandelt wurde, da man sich bewusst war, dass auch diese Bauaufgabe ein wichtiges Thema darstellt. Es ist nicht nur ein Objekt, sondern es ist auch in die urbane Landschaft eingebettet und gleichzeitig wurde der öffentliche Raum mitgestaltet.
Projekte wie dieses sind selten, aber umso wichtiger, weil sie das Niveau unserer Kultur repräsentieren. Auch aus diesem Grund gibt es Wettbewerbe wie den Tiroler Landespreis, bei dem ich in diesem Jahr Mitglied der Jury sein durfte. Während der zwei Jurytage habe ich gemerkt, dass das Alltägliche und das Moderne in Tirol wichtige Themen für die Architektur sind. Das ist nicht so selbstverständlich wie es vielleicht scheint. Vor ein paar Jahren bat man mich für den BDA Preis Projekte in Bayern zu nominieren. Im Rahmen des Auswahlverfahrens gerieten wir in der Jury in Verlegenheit, da etwa ein Drittel der eingereichten Projekte Sakralbauten, ein Drittel Kulturbauten und ein Drittel Einfamilienhäuser waren. Das bedeutet – abgesehen von der letzten Kategorie –, dass alltägliche Bauaufgaben in Bayern scheinbar kein Thema für die Architektur sind. In Tirol dagegen sind zum Beispiel Supermärkte schon seit einigen Jahren ein wichtiges Thema.
Supermärkte sind nicht nur ein alltägliches, sondern auch ein modernes Phänomen, da es sie erst seit kurzem gibt. Vielleicht haben wir es lange nicht bemerken wollen, aber Supermärkte sind wichtige Orte in unserem Lebensalltag geworden. Deswegen verdienen sie es, auch dementsprechend behandelt zu werden. Inzwischen sind es nicht nur mehr die MPREIS-Märkte, die gestaltet sind, sondern auch andere Lebensmittelanbieter bemühen sich architektonisch interessante Gebäude zu realisieren. Eine ähnliche Tendenz zeichnet sich auch bei den Banken ab. Und genauso versteht eine große Firma wie Binder in Fügen, dass es sich gerade in diesem amerikanisch anmutenden Abschnitt des Zillertals lohnt, einen Architekten zu beauftragen, um das neue Biomasseheizkraftwerk zu gestalten.
Architektur scheint in Tirol gut in das politische System eingebettet zu sein. In Innsbruck war die Architektur sogar Thema bei den letzten Bürgermeisterwahlen. Das ist unglaublich wichtig, denn ohne die Politik und die Verwaltung kann der Architekt zwischen dem Bauherrn und der Öffentlichkeit unmöglich vermitteln. Es geht dabei nicht nur um spektakuläre Projekte wie die Skisprungschanze und die Nordkettenbahn in Innsbruck oder verhältnismäßig kleine aber wichtige Projekte wie das Stadion in Matrei i. O. oder das Gemeindezentrum in Kals am Großglockner. Die Politiker und Beamten spielen vor allem bei komplexen und multifunktionalen Projekten eine wichtige Vermittlerrolle, da unterschiedliche Interessen abgewogen werden müssen, wie z. B. beim neuen Zentrum im Olympischen Dorf in Innsbruck, dem Sparkassenplatz, dem Projekt für das Kaufhaus Tyrol und dem BTV Stadtforum. Jenseits dessen was man von den individuellen Resultaten denken mag, muss man verstehen, dass in diesen Fällen, ambitioniert und mit hohem Anspruch, gemeinsam ganze Stadtteile revitalisiert und aufgewertet werden. Was mich dabei beeindruckt, ist, wie sorgfältig der öffentliche Raum programmiert und gestaltet wird.
Ist denn alles fantastisch in Tirol? Nein, aber ich würde einmal behaupten, dass Tirol in Europa, und vor allem im Vergleich zu einigen deutschen Bundesländern, sehr gut abschneidet. Schwachstellen in Tirol sind vor allem die Bereiche, wo man glaubt, traditionell gut dazustehen. Die schönen historischen Stadtkerne leiden zum Beispiel darunter, dass es kaum möglich ist, neue, größere Programme und damit Bauten darin zu integrieren. Dementsprechend wuchern die Stadtränder. Bei den Denkmalpflegern, so scheint es mir, fehlt es an Visionen. Denn alles einfach so zu belassen wie es ist, vor allem aus Angst vor der öffentlichen Meinung, stellt sich für mich nicht als zukunftsfähige Haltung dar. Ähnlich visionslos bastelt die Tourismusindustrie weiter und ich frage mich, wie lange das noch gut gehen kann. Am seltsamsten ist für mich aber, dass über die Landschaft, die doch maßgeblich die Identität von Tirol prägt, so wenig nachgedacht, gesprochen und geschrieben wird. Alle genießen sie, alle bewundern und konsumieren sie. Alle nehmen diese „Kulturlandschaft“ aber als gegeben hin, wo sie doch schon längst zum Großteil ein Konstrukt ist, gepflegt und gestaltet in einer Art, die sich nicht so sehr von der niederländischen Polderlandschaft unterscheidet, wie man es vielleicht gerne hätte. Auch hier wird ständig herumgebastelt, aber es gibt wahrscheinlich kein Land in Europa, wo die Landschaft so wichtig ist, aber Landschaftsgestaltung und der bewusste Umgang mit ihr eine so untergeordnete Rolle spielen.
bart lootsma
geb. 1957 in Amsterdam; Historiker, Kritiker und Kurator; seit 2006 Professor für Architekturtheorie an der Universität Innsbruck
publikationen (Auswahl)
2004 „ArchiLab 2004. The Naked City“; 2000 „Super Dutch“; 1988 „Media and Architecture“ (gem. mit Dick Rijken)
aut: feuilleton
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Die Ausstellung zeigt sämtliche zur Auszeichnung eingereichten Projekte und bietet damit einen repräsentativen Querschnitt durch die Tiroler Architekturlandschaft der unmittelbaren Vergangenheit.
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