Hans-Walter Müller: Ich habe die Schwerkraft schon verlassen
ausstellungEine Ausstellung des Architekten, Ingenieurs und Künstlers Hans-Walter Müller (geb. 1935), der als ein Pionier der aufblasbaren Architektur gilt.
weiterlesen …Auszüge aus einem Text von Hans-Walter Müller (2004)
Auszüge aus „Eine von Luft getragene Architektur“, erstmals publiziert in: miniPA Nr. 33, 2004, übersetzt von Leander Berger und editiert von Robert Stürzl, abgedruckt in der aut: info 1/2022.
Als Architekt will ich vor allem Räume schaffen und verändern, in denen man sich frei entfalten kann. Für mich darf ein Haus oder eine Wohnung kein Dekor sein, sondern muss ein Lebensumfeld sein, das veränderbar ist. Heute könnten wir das erreichen, aber wir begnügen uns damit, unbeholfen immer leistungsfähigere technologische Erfindungen hinzuzufügen und anzuhäufen, während sich der Rest kaum ändert. Ich selbst habe immer auf die technologischen Phänomene unserer Zeit geachtet, von der elektrischen Energie bis zur Elektronik, um mit diesen neuen Komponenten, mit diesem neuen Rohstoff, Architektur zu machen.
Als Architekt bin ich vor allem für die dritte Dimension empfänglich. Was hinter unserem Rücken oder über uns passiert, ist genauso wich-tig wie das, was vor uns passiert. 1967 hatte ich, nach der Ausstellung „Lumière et Mouvement“ im Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris, die Gelegenheit, mich mit dem kinetischen Experimentieren in diese Richtung zu bewegen. In meinem Atelier in La Plaine Saint-Denis lebte ich 1968 die ganze Zeit mit und in der Projektion von Bildern. Natürlich konnte ich sie auch unterbrechen, so wie wir es mit dem Klang machen und wie ich es bei der Architektur tue. Projektionen benötigen einen Träger; ohne das Material, das sie offenbart, ist kein Licht sichtbar. So kam mir die Leinwand als unbegrenzte, bewegliche Bildfläche gelegen. Ich hatte dann die Idee, einen Ballon zu konstruieren, in den ich einsteigen konnte und auf dessen Oberfläche ich Bilder projizieren würde. Ich befand mich in einer Welt ohne Störgeräusche, ohne Wände, ohne Decken, ohne die üblichen vertikalen und horizontalen Schnitte. Auf die Leinwand dieser aufblasbaren Konstruktionen projizierte ich nicht nur farbige Bilder, sondern auch Schlagschatten.
erste aufblasbare volumen
Meine ersten aufblasbaren Volumen stammen aus dieser Zeit 1967 / 68. Ich nannte sie „Volux“ (Volumen + Lux = Licht). Sie bestanden aus einer Leinwand, der Hülle, auf die Licht – ein abstraktes Bild oder ein Schatten – projiziert wurde. Diese aufblasbaren Volumen wurden 1968 im Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris ausgestellt. Einer programmierten Bewegung folgend, füllten sie sich mit Luft und fielen wieder zusammen. Die Tatsache, dass eine Konstruktion ihre Form verlieren, sterben und wieder auferstehen konnte, stellte einen Bruch mit der Tradition dar. Diese neue „aufblasbare“ Konstruktion hatte diese Gabe: sie konnte erscheinen und verschwinden. Was bei-nahe so faszinierend war wie die elektrische Energie. Man braucht nur auf einen Knopf zu drücken und bekommt Ton, Licht, „ein Haus“. Ich hatte den Ehrgeiz, in der Bewegung dieser Bildflächen zu leben, die von Luft, Licht und Klang getragen werden.
Mein erster Auftrag war gleich ein sehr kühner. 1969 wurde ich von der Fondation Maeght in Saint-Paul-de-Vence gebeten, ein Theater mit 800 Plätzen zu bauen, in Anerkennung verschiedener amerikanischer Künstler wie John Cage, La Monte Young, Merce Cunningham und weiteren, mit einem von Andy Warhol entworfenen Bühnenbild. Jeden Abend fanden in diesem Theater Musik, Tanz und Performances statt. Das speziell für diesen Anlass angefertigte Material hatte außen rote und weiße Streifen, während die Innenseite einheitlich weiß gehalten war. Tagsüber konnte man unter Sonneneinwirkung durch die durchscheinende Wand die farbigen Streifen der Außenseite von innen perfekt sehen. Nachts aber befand sich der Zuschauer an einem völlig neutralen Ort, an dem er sich voll auf die Aufführung konzentrieren konnte.
besonderheiten aufblasbarer strukturen
Bedingt durch seine unweigerliche Schwere bleibt die Stelle, an der das Haus auf den Boden trifft, immer unsichtbar. Das aufblasbare Volumen hingegen entkommt der Schwere und will ständig den Boden mit einer nach oben treibenden Kraft verlassen. Aus diesem Grund muss man das Volumen festhalten. Es scheint mir entscheidend, diese wesentliche Schnittstelle mit der Erde zu betonen. Das Fehlen von Fundamenten stellt einen radikalen Unterschied im wahrsten Sinne des Wortes dar: eine wurzellose Wohnkapsel. Sich nach unten senkende Fundamente werden von nach oben gezogenen Verankerungspunkten ersetzt.
Die Konzeption einer aufblasbaren Konstruktion erfordert vor allem die Beherrschung der Lehre der Mechanik der Gase und Flüssigkeiten, um eine Anordnung der Haut zu erreichen, die für eine durchgängige harmonische Spannung sorgt. Aus mechanischer Sicht ist der Begriff der Kontinuität grundlegend. Nach meiner Art, aufblasbare Volumen zu entwerfen, könnte man mich als Couturier der Architektur bezeichnen. Ich entwerfe sozusagen weite Kleider, die mich umhüllen und in denen ich lebe. So wie ein Schneider muss man Schablonen und Schnittmuster entwerfen, dann den Rohstoff nach diesen Schablonen ausschneiden und zusammenlegen, um dann in chronologischen Schritten die ursprünglich entwickelte Form zu erhalten. Diese Form bleibt während des gesamten Herstellungsprozesses unsichtbar; erst nach ihrer Fertigstellung wird die tragende Luft sie sichtbar machen.
eine aufblasbare struktur ist ein lebender organismus
Da die aufblasbare Struktur der Schwerkraft nicht unterliegt, gehört sie zu einer biologischen Konstruktionsart, für die die Mechanik der Gase maßgeblich ist. Wir könnten sie in mechanischer Hinsicht mit unserem Körper vergleichen, der den gleichen Gesetzen unterliegt und ebenfalls aus einer Flüssigkeit besteht, die von Haut umschlossen wird und wie jeder lebende Organismus durch Energie funktioniert: Wie eine Pumpe er-zeugt das Herz den Druck im Blut.
In einem aufblasbaren Volumen ersetzt die gespannte Haut die traditionellen Wände. Diese Konstruktion besteht kaum noch aus Materie; die Haut ist nicht einmal einen Millimeter dick, die Dicke eines Gewebes wird in Mikron gemessen. Als Architekt habe ich daher keine Probleme mehr mit der Achse oder mit der Dicke des Materials. Die Feinheit dieser Haut, die allein die Grenze zwischen innen und außen gewährleistet, ist sehr dünn und wirkt empfindlich. Eine Messerklinge reicht in der Tat, um sie aufzureißen. In der Welt, in der wir leben, wird Empfindlichkeit als Nachteil empfunden und unweigerlich als negativ wahrgenommen. Diese Fragilität ist jedoch relativ: Unser Körper ist genauso fragil. Eine aufblasbare Struktur ist ein lebendiger Organismus, der mit Energie funktioniert. Diese Architektur lebt im Augenblick.
Konfrontiert mit den Naturgewalten, ist das aufblasbare Volumen nicht starr, sondern steht im Dialog mit Schnee, Licht und Wind und kann sich als Antwort auf diese Einwirkungen verformen. Der Isolationsfaktor der verwendeten Materialien entspricht nicht dem, der heute in der Marktwirtschaft empfohlen wird. Aber ich bin mir sicher, dass wir in sehr naher Zukunft dahin kommen werden.
getragen von der luft, hier und anderswo
Chaillot II wurde vom Parfümeur Marionnaud für eine dreitägige Veranstaltung für seine Kunden und eine breite Öffentlichkeit in Auftrag gegeben. Ich habe sehr oft kurzlebige Projekte realisiert. Dieses Volumen wurde speziell für diesen Ort entwickelt. Eine Architektur mitten in der Stadt zu installieren ist ein Geschenk des Himmels, das nicht jedem gegeben ist. Es ist eine andere Art, sich einen Ort anzueignen: mit der „anderen Architektur“ in Dialog treten zu können. Diese Konfrontation auf Augenhöhe sorgt für viele Überraschungen und öffnet den Blick für Gebäude, die man abseits der gewohnten Weise wahrnimmt. Der Vorplatz, der für einen kurzen Moment zu einem Innenraum wird, bleibt der Platz und ist doch kein Platz mehr.
Derartige flüchtige Konstruktionen, die für einen Ort entworfen wurden, werden manchmal wiederverwendet. So wurde zum Beispiel Chaillot II mehrfach an verschiedenen Orten installiert. In dieser Konzeption hatte das Volumen die Besonderheit, geometrisch aus drei Teilen zu bestehen: zwei Viertelkugeln zu beiden Seiten eines zentralen Zylinders, mit großen Reißverschlüssen miteinander verbunden. Mit diesen Reißverschlüssen konnte man die Größe und die Form des Volumens modulieren; indem man den zentralen Teil entfernt und die beiden Enden zusammensetzt, erhält man einen halbkugelförmigen Raum. Im Gegen-satz zu einer für immer erstarrten Architektur, kann sich diese bewegen und an verschiedenen Orten platziert werden. Jedes Mal mit neuen Nachbarn konfrontiert, bekommt die Architektur eine andere Bedeutung.
Generell bin ich immer auf der Suche nach dem neuesten Stand der Forschung, mit dem ich meine Anwendungen bis an die Grenzen führen kann. Ich verwende systematisch die hochwertigsten Materialien, weil ich aus Erfahrung weiß, dass der Unterschied bei gleichen technischen Spezifikationen groß ist. Wenn nötig, lasse ich das Material speziell nach meinen Angaben und Anforderungen herstellen; aber das Projekt muss groß genug sein.
räume für menschen
Ich bin vor allem Architekt. Meine Aufgabe ist es, die Räume zu studieren, in denen sich der Mensch entfaltet, in denen er sich fühlt und sich selbst spürt, sei es gut oder schlecht. Architektur muss so gemacht sein, dass man wachsen und sich wach fühlen kann; das ist extrem wichtig. Es reicht nicht, dass ein Gebäude von außen gut aussieht. Man muss in ihm etwas empfinden können, auch ohne es erklären zu können. In meinen aufblasbaren Volumen, die von Natur aus rund sind, fühlt sich der Mensch oft sehr wohl. Natürlich ist es zu einfach, auf den Mutterleib zu verweisen – woran ich oft erinnert werde – aber man muss zugeben, dass sich dort ein echtes Wohlgefühl einstellt. Wenn Sie sich in einem traditionellen Gebäude befinden, werden Sie normalerweise von Störungen beeinträchtigt, es gibt Wände, die sie aufhalten oder ihre Sicht einschränken. Der Mensch will aber nicht herumlaufen und sich plötzlich vor einer Wand wiederfinden. Er bevorzugt Kontinuität, nach unten, nach oben und überall. Das aufblasbare Volumen bietet diese Kontinuität in allen Richtungen. Besonders beim Hören von Musik offenbart sie diese ihr eigene Harmonie: Die Schallwelle verschmilzt mit der Luft, die uns erfüllt.
der moment des aufstellens
Der Moment des Aufstellens eines aufblasbaren Volumens ist immer magisch und ein bisschen geheimnisvoll. Das Material wird ausgebreitet, dann wird Luft hineingeblasen. Das Volumen beginnt zu schwingen, stürmische Wellen bilden beliebige Formen. Dann nimmt die Struktur ihre intendierte Form an, sie findet ihre Stabilität, und ihre Präsenz setzt sich durch. Bereits wenige Augenblicke später können wir uns schwer vorstellen, dass die Struktur abschwellen könnte.
Wenn man ein aufblasbares Volumen realisiert, nimmt man bis zur letzten Minute nicht die Form wahr, die sich später bildet. Vor einem steht ein scheußlicher Materialhaufen, der immer größer und schwerer wird. Ein Maurer, der eine Mauer baut, kann ihr immer beim Wachsen zusehen und nach und nach daraus Freude schöpfen. Bei einem aufblasbaren Volumen mit akribischen und präzisen Schweißnähten türmt sich ein Stapel Stoff auf und bildet unentwirrbare Falten, bei denen man rigoros seine Markierungen überprüfen und regelmäßig die Längen und Winkel kontrollieren muss. Erst im letzten Moment, am Tag der ersten Installation, entsteht die Form; das ist dann der entscheidende Moment. Der Moment, in dem man weiß, ob man gut gearbeitet hat oder nicht.
Eine Ausstellung des Architekten, Ingenieurs und Künstlers Hans-Walter Müller (geb. 1935), der als ein Pionier der aufblasbaren Architektur gilt.
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