MPREIS-supermärkte – ein kulturelles phänomen
Ein Beitrag von Rainer Köberl anlässlich „100 Jahre MPREIS“
Auf Tirols „Heldenberg“, dem Berg Isel, ist – gut sichtbar von der darunter vorbeiführenden Autobahn – ein markantes Museumsgebäude entstanden. „Schau Papa, ein neuer MPREIS“, sagte ein sechsjähriges Mädchen zu seinem Vater, als sie dort mit 100 km/h vorbeifuhren. Diese kleine Anekdote verdeutlicht, wie stark MPREIS-Supermärkte, die in den 1970er-Jahren aus den fünfzig Jahre vorher gegründeten kleinen Läden der Therese Mölk hervorgingen, als kulturelles Phänomen im Lebensraum Tirol verankert sind.
Wahrscheinlich gibt es wenige Regionen, in denen wie in Tirol am Kaffeehaustisch oder abends an der Bar über eine Lebensmittelhandelskette diskutiert wird. Es wird kritisiert und gelobt, mit Vorschlägen und enttäuschenden Erlebnissen nicht gespart, relativiert und verglichen, immer aber schwingt eine gewisse Grundsympathie mit. Die Gesprächsthemen sind vielfältig: die Qualität des Gemüses, die Freundlichkeit des Personals, die gebauten Hüllen, das Brot, die Gedichte am Feinkostpackpapier, die aus den Dorfzentren „vertriebenen“ Greißler und die Baguette-Filialen, die das Café oder Gasthaus im Dorf zunehmend ersetzen. Sicher gibt es keine Region auf der Welt, in der die Architektur von Supermärkten das architektonische Geschehen eines Landstrichs so sehr beeinflusst hat und dazu beigetragen hat, dass sich im Lauf der Jahre innerhalb der Baukultur eine gewisse Offenheit etablieren konnte.
Wie so oft in der Geschichte von Bautypologien entstehen in der Pionierzeit architektonisch herausragende Leistungen. Bei Supermärkten kennen wir dies aus Amerika oder Frankreich, dort jedoch in viel größeren Maßstäben. MPREIS-Supermärkte entstanden allerdings in einer Zeit, in der dieser Typus in Europa bereits überall die Landschaft mit billigen Blechkisten verstellte. In einer Branche, die im Konkurrenzkampf auf ähnliche Produkte, auf eine präzise Kalkulation und möglichst hohe Deckungsbeiträge baut, scheinen Investitionen in qualitätsvolle Architekturen vorerst absurd zu sein. Noch absurder wird es, wenn ein regionales Familienunternehmen, das in seiner Preisgestaltung mit der Einkaufspolitik nationaler und international agierender Konzerne konkurrieren muss, diesen Schritt setzt. Reine Vernunft und bloßer Verstand lassen in einer derart ökonomisch geprägten Branche qualitativ anspruchsvolle Architektur nicht wirklich automatisch entstehen. Ohne eine gewisse kulturelle Grundeinstellung und eine künstlerische Ader, die in der Familie der Eigentümer vorhanden war und ist (1), ohne die Freundschaft zu einem Architekten (2), ohne die Initialfrage „Kann ein Supermarkt nicht auch anders ausschauen?“ eines damals jungen Architekten (3) und vor allem ohne die familieninterne Begeisterung für Architektur, wäre der Anspruch, qualitativ hochwertige Räume und Bauten für das Einkaufen zu schaffen, wohl nie wichtig geworden. Sicher auch dann nicht, wenn die „kalkulierenden Köpfe“ des Unternehmens nicht ebenfalls an diesen Weg geglaubt hätten, wo sich doch – ganz salopp gesagt – im Lebensmittelhandel alles einfach immer „rechnen“ muss.
Ein gut gehender Greißlerladen war geprägt durch die Prinzipien Nähe, Preis und Eigentümerpersönlichkeit. Die beiden ersten Kriterien muss jeder Supermarkt erfüllen, die Persönlichkeit kann durch Architektur bzw. Raumatmosphäre ersetzt und somit Teil des wirtschaftlichen Erfolgs werden. Die „Greißlerpersönlichkeit“, sein Umgang mit den Kund*innen, sein Lebensalltag im Stadtviertel oder Dorf sind das, was die Architektur des Supermarkts ersetzen muss bzw. sollte. In diesem Zusammenhang wird auch klar, dass es eben kein absurdes Unterfangen ist, Architektur in ökonomische Überlegungen miteinzubeziehen.
Dabei geht es aber nicht um Schönheit! Schönheit war nie eindeutiges Ziel in der Zusammenarbeit zwischen den über 50 verschiedenen Architekt*innen aus bald vier Generationen (4) und dem Führungsteam der Firma MPREIS. Primär geht es um den speziellen Ort und seine Anforderungen, durchaus auch um die architektonische Lösung von pragmatisch vorhandenen Bedingungen oder um die Nutzung bzw. Entdeckung von bestehenden Potentialen. Wie vermittelt sich das Gebäude den Kund*innen, wie bewegen sie sich zu ihm und wie in ihm? Wie ist die Stimmung im Raum und in welchem Verhältnis steht diese zur Ware oder die Ware zur Umgebung? Wie reagiert der jeweilige Raum auf die Komplexität des Orts? Man entdeckt die wechselseitige Beziehung zwischen dem Wohlfühlen der Kundschaft und der Zufriedenheit des Personals und damit letztendlich deren Auswirkungen auf die Wirtschaftlichkeit eines Marktes.
Die Angemessenheit der Mittel ist eigentlich durch die Aufgabe gegeben. Ein Supermarkt bleibt ein Supermarkt, das ist uns Architekt*innen klar. Der intensive Planungsprozess zwischen Bauherrschaft und Architekt*innen, in dem es eine Kultur des Zuhörens gibt, beinhaltet natürlich auch den Aspekt des Sparens, dieser reinigt manchmal, macht auch Formulierungen oder Konzepte klarer, die ökonomische Effizienz steht aber nie im Vordergrund des Diskurses. Kein Einzelaspekt der Aufgabenstellung wird hervorgehoben, sondern man versucht, alles zu bedenken – bis in die kleinsten Kleinigkeiten. Dabei wirken alle mit, das gesamte Führungsteam der Firma, die Mitarbeiter*innen, die beteiligten Planer*innen und die Architekt*innen. In diesem Beteiligungsprozess werden die Aufgaben gelöst oder auch Neuerfindungen entwickelt. Kein Umweg, kein Verwerfen von Lösungen, selbst im letzten Augenblick, sogar noch auf der Baustelle, wird gescheut. Wenngleich in den vergangenen Jahrzehnten schon über 250 Filialen gestaltet wurden, bleibt das Denken über jeden Markt frisch und von keiner Routine belastet. Vielleicht ist dies das Wesentlichste, was andere Betriebe von MPREIS lernen könnten – alles andere ist eigentlich unnachahmbar.
(1) Der Maler Franz Mölk und die Künstlerin Michaela Mölk-Schweeger, die bis in die frühen 2010er-Jahre das graphische Erscheinungsbild des Unternehmens geprägt hat.
(2) Heinz Planatscher
(3) Wolfgang Pöschl
(4) Folgende Architekt*innen bzw. Architekturbüros haben bis 2019 MPREIS-Märkte in Tirol, Südtirol, Vorarlberg, Salzburg, Kärnten und Oberösterreich realisiert: Silvia Boday, Martin Both (mit W. Pöschl), Joseph Bleser (mit W. Pöschl), Casa-Nuova, Stephan Dellago, DIN A4, Fügenschuh & Hrdlovics, Daniel Fügenschuh, Froetscher Lichtenwagner, Giner + Wucherer, Manfred Gsottbauer, Erich Gutmorgeth, Heinz Mathoi Streli, Holzbox Tirol, Rainer Köberl, LAAC Architekten, Peter Lorenz, LP Architekten, Hans Peter Machné, Dieter Mathoi, Miklautz / Gärtner, Moser Kleon, Moser & Nägele, Anna Mölk, Günther Norer, Johann Obermoser, Andreas Orgler, Pendl & Senn, Paul Petter, Dominique Perrault, Michael Pfleger, Wolfgang Pöschl, Heinz Planatscher, Raimund Rainer, Helmut Reitter, Markus Johann Rottenspacher, Kurt Rumplmayer, Michael Schafferer, Scharfetter & Rier, Peter Scharler, Schwaighofer Architekten, Ernst Schwaighofer, Helmut Seelos, Helmut Siebenförcher, Michael Steinlechner & Astrid Tschapeller, Stoll & Wagner, Stöger + Zelger, Jörg Streli, Veit Streli, tatanka ideenvertriebsgmbh, ventira architekten, Hanno Vogl-Fernheim, Johannes Wiesflecker
Ein Text von Rainer Köberl anlässlich von "100 Jahre MPREIS", erschienen in der aut: info 1/2021