stadt neu denken
ein aut: feuilleton von peter lorenz
Dieser Text entstand im Zusammenhang mit einem von Peter Lorenz am 20. Feber 2020 einberufenen Pressegespräch, bei dem er am Beispiel des Gewerbegebiets Mühlau / Arzl seine Visionen von einer „produktiven Stadt“ mit hoher Dichte und vertikalem Nutzungsmix zur Diskussion stellte.
Immer schon haben Menschen im selben Haus gewohnt und gearbeitet: Handel wie Gewerbe im Erdgeschoß und Wohnen darüber. Erst im 19. Jahrhundert begannen die Arbeiter in Fabriken zu fahren, die vom Wohnort entfernt lagen. Vor allem Le Corbusier definierte nach dem Ersten Weltkrieg das Konzept der „getrennten Stadt“, das in der Charta von Athen festgeschrieben wurde: außerhalb der historischen Zentren werden Gebiete für Gewerbe, Wohnen und Industrie getrennt ausgewiesen. Nach dem Zweiten Weltkrieg explodierte diese wirtschaftlich vorteilhafte Stadtauffassung in aller Welt und wurde durch die Idee der peripheren Einkaufszentren (Victor Gruen) wie der „autogerechten“ Stadt noch verstärkt. Ungünstige Auswirkungen zeigten sich bald in unzähligen Schlafstädten mit hoher Kriminalität und negativen soziologischen Folgen. Die fachliche Kritik an der „getrennten“ Stadt war anfangs vor allem gesellschaftspolitisch motiviert. Die IBA Berlin 1987 setzte sich mit diesem Thema auseinander und die Charta von Leipzig 2007 wurde als ein Bekenntnis zur durchmischten Stadt von allen EU-Staaten unterzeichnet. Deutschland reagierte 2008 mit der neuen Widmungskategorie „Urbanes Gebiet“ und Wien folgte 2018 mit der Widmung „Produktive Stadt” für ausgewiesene Mischgebiete laut STEP 2025.
Gewerbegebiete an den Peripherien mit einer beispiellosen Flächenverschwendung ohne jede städtebauliche Qualität finden wir in ganz Europa. „Meister“ dieser Entwicklung sind wir Österreicher, denn das Versiegeln von Flächen mit krebsartigen Wucherungen nahm in Österreich von 2001 bis 2017 um rund 25 % zu. 1.132 Quadratkilometer oder 2,5 Mal die Landesfläche Wiens! Im gleichen Zeitraum ist die Bevölkerung nur um 9,1 % gestiegen.
Tirol übertrifft diese Dynamik mit einem Dauersiedlungsraum von nur 12 % noch, trotz der Ziele im Tiroler Raumordnungsgesetz (TROG) von 1994, die folgendermaßen definiert wurden: „…die sparsame, zweckmäßige Nutzung des Bodens (…), mit den natürlichen Lebensgrundlagen ist spar- sam umzugehen (…) und soll nicht derart in Anspruch genommen werden, dass sie künftigen Generationen nicht mehr in ausreichendem Maß zur Verfügung stehen“. Die Diskrepanz zwischen fachlichem Wissen, politischem Willen und gelebter Praxis lässt sich im Beschluss der Bundesregierung von 2002 erkennen, wonach der Bodenverbrauch max. 2,5 Hektar pro Tag betragen soll – geworden sind daraus 20 Hektar = 30 Fußballfelder!
Die seit 1994 vorgeschriebenen Örtlichen Raumordnungskonzepte (ÖROKO) sollten die Tiroler Ortsentwicklungen für die nächsten zehn Jahre definieren. Abgesehen von einigen Ausnahmen bleibt aber die veraltete Widmungsphilosophie aufrecht, auch beim aktuellen ÖROKO der Stadt Innsbruck, das nicht zukunftsfähig ist, weil es weiterhin auf der Trennung von Wohn- und Gewerbegebieten aufbaut. Vor 50 Jahren gab es noch Gewerbezonen mit unterschiedlichen Emissionen, heute gibt es nur eine Widmungskategorie, weswegen man in diesen Arealen nicht wohnen darf.
Das zentrale Thema der Zukunft ist aber die Transformation unserer Peripherien, wie es Renzo Piano in Italien aufzeigt. Denn monofunktionale Gewerbegebiete saugen Orten die Kaufkraft ab, verursachen enormen Verkehr, versiegeln wert- volle Flächen und haben weder städtebauliche noch architektonische Qualitäten. Parallel dazu steigen überall die Grundstückskosten in schwindelerregende Höhen und verunmöglichen es, leistbaren Wohnraum zu schaffen. Darüber hinaus diskutiert die ganze Welt Strategien für die Bewältigung der Klimakrise – sollen die Gewerbegebiete dabei ausgeschlossen bleiben?
Die „Metamorphose“ dieser peripheren Areale erfordert ein Umdenken, konstruktive Diskurse und geänderte rechtliche Voraussetzungen. Das Ergebnis sollte eine „durchmischte Stadt“ mit einer sinnvollen Bebauungsdichte und Bauhöhen sein, zugunsten der Erhaltung von Freiland. Denn die meisten heutigen Gewerbebetriebe haben „wohnungsverträgliche Emissionen“. Es könnten attraktive Stadtteile mit weniger Verkehr und architektonischer Qualität entstehen – in den Obergeschoßen mit leistbaren und teilweise freifinanzierten Wohnungen.
Lasst uns die raumplanerischen Tabus in Tirol aufbrechen, führen wir einen konstruktiven Dialog, in dem das beste Argument gewinnt – unseren Nachkommen zuliebe, denen noch etwas von unserer Landschaft übrig bleiben soll.
(Text: Peter Lorenz, erschienen in aut: info 2/2020)
peter lorenz
Studium und Gründung des Architekturbüros in Innsbruck; seit 1991 Standort in Wien, seit 2014 Gesellschafterin Giulia Decorti. Definiert sich als Urbanist, Architekt und Gestalter. Masterpläne, Projektentwicklungen und Gebäudeplanung bis zur Übergabe entstehen auf Basis einer ethischen Grundlage, eines humanistischen Welt-bildes und einer ganzheitlichen Verantwortung. Peter Lorenz legt hohen Wert auf ein vielseitiges, internationales Team und strebt in einer respektvollen Zusammenarbeit mit den besten ExpertInnen nach einer werthaltigen Qualität und zeitlosen Architektur: Nicht ein „Stil“ ist sein Ziel, sondern optimale Lösungen komplexer Aufgaben an einem einzigartigen Ort. Die professionelle Planung ist ihm genauso wichtig wie eine kompetente Bauabwicklung. Erwähnenswert sind seine Aktivitäten in Gestaltungsbeiräten, Jurys, Gastprofessuren und Lehrtätigkeiten an verschiedenen Universitäten, aktuell Begründer des Symposiums Trieste 2020
bauten (Auswahl)
Das Triest, Wien; Q 19 Einkaufsquartier Döbling, Wien; Sottolfaro, Triest; MPREIS, Niederndorf; Ener[gie]nger, München; Breite Furt, Wien; Nussbaumallee, Wien; Base 11, Wien; Asfinag, Innsbruck; IVB, Innsbruck; Wohnanlage Kreuzgasse, Innsbruck; Bora, Raubling; MED Campus, Linz; Sportcity Ilirija, Lujubljana und eine Vielzahl geförderter Wohnanlagen Wien; Zahlreiche Auszeichnungen und Preise