Stadtspaziergang "Quer durch Schwaz mit Werner Burtscher"
führungEine Spaziergang mit Architekt Werner Burtscher durch die Bezirkshauptstadt Schwaz.
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Ein aut: feuilleton-Beitrag von Werner Burtscher, erschienen in der aut: info 1/2025
stadtstiche
„Stadtstiche“ ist ein Arbeitstitel für eine Serie von Texten zur Architektur und (Bau)Kultur von Städten in Tirol. Es ist dem Autor dieser Zeilen bewusst, dass eine Anlehnung an die „Stadtstiche“ von Norbert C. Kaser nicht möglich ist. Der Südtiroler Lyriker mag verzeihen, dass die Bezeichnung trotzdem, auch aus stiller Verehrung, übernommen wurde
Schwaz ist eine schöne Stadt. Wie alle Städte natürlich nicht überall und nicht immer offensichtlich. Viele Gründe – für ihre Schönheit und ihre Fehlstellen – liegen, wie so oft, in der Stadtgeschichte. Dazu ist es wichtig zu wissen, dass Schwaz durch den Erzabbau ab dem Mittelalter eine europäische Bergbaumetropole war. Diese Tatsache machte den Ort zu einem der größten in der Habsburgermonarchie und ermöglichte eine gute Entwicklung, was letztendlich 1899 zur Stadterhebung führte. Einige Gebäude1aus der Blütezeit dieser Epoche prägen noch heute das Stadtbild.
die „tschiggin“ – die tabakfabrik 1830 – 2005
1830 war es eine politische Entscheidung, in der Stadt einen Produktionsstandort für Tabakwaren zu errichten. Der Bergbau hatte seinen Höhepunkt überschritten, die Stadt war zu diesem Zeitpunkt verarmt. Die „Tschiggin“, wie die Tabakfabrik auch genannt wurde, war für Schwaz eine Chance sich zu entwickeln und aus der Armut herauszukommen. Sie war Arbeitgeberin für bis zu 12.000 Mitarbeiter:innen und Initiatorin sozialer Entwicklungen2. Die Aufgaben der Tabakfabrik erschöpften sich nicht in der Produktion, sondern sie übernahm auch soziale Verantwortung für ihre Mitarbeiter:innen – wie überhaupt Industriebetriebe im 19. und 20. Jahrhundert oft eine über das rein Ökonomische hinausgehende Verantwortung gegenüber der Gesellschaft übernahmen und die „Mentalität“ von Menschen und Ortschaften in Tirol und Österreich bis in die 1970er-Jahre prägten.
Die Gebäude der Tabakfabrik waren keine herausragenden Beispiele der Architektur des 19. Jahrhunderts3, aber ein wichtiger Ort für die „Identität“ der Stadt Schwaz. Aus diesem Grund war ihr Abbruch in den Nullerjahren ein Verlust. Der Errichtung des heutigen Gebäudes ging ein Wettbewerb4 voraus. Das Siegerprojekt wurde nicht ausgeführt. Die geladenen Büros5 zeigten den städtebaulichen Weg auf, nämlich an der Schnittstelle zwischen Bahnhof und Altstadt ein qualitätsvolles, heterogenes Stück Schwaz zu schaffen. Das Raum- und Funktionsprogramm des Wettbewerbs wäre in der Vielfalt der Funktionen (Wohnen, Büros, EKZ, Seniorenresidenz, Hotel, Saal usw.) ein taugliches Mittel gewesen, eine öffentliche Verantwortung in der Stadt zu übernehmen. Die raumplanerischen Erkenntnisse der 1980er- und 1990er-Jahre, die vielfach zeigten, dass die Konzentration von Handelsbetrieben – in gewissem Sinne urbane Monokulturen – in ihrer ortsfremden Maßstäblichkeit zum Verlust von alten Handels- und Gesellschaftsstrukturen führen, wurden leider – vermutlich aus betriebswirtschaftlichen Gründen – ignoriert.
Der Ersatzbau für die Tschiggin – die Stadtgalerien Schwaz – wurde für die umliegende Altstadt kein Frequenzbringer. Das goldfarbene Einkaufszentrum möchte zwar dem Stadtleben etwas geben, kann es aber bis auf wenige Tage im Jahr eigentlich nicht. Denn parallel zum Inn gesetzt, unterbindet der Baukörper durch seine Lage, die nahezu geschlossene Fassade und die autogerechten „Lösungen“ den Bezug zur bestehenden Stadt und zum Inn.6
die fußläufigen wege in und durch die stadt
Ein Wildbach in Schwaz ist der Lahnbach. Er bildet den Übergang vom Zentrum zum östlich gelegenen Stadtteil von Schwaz. Dieser Wildbach „erzeugt“ bemerkenswerte, architektonische Situationen. Er ist tief eingegraben und bietet links und rechts stadträumlich und höhenmäßig differenzierte Situationen für Aufenthalts- und Naherholungsmöglichkeiten. Im unteren Bereich, zwischen der Lahnbachgasse 1 und 11, ist die Allee zu erwähnen, die zu jeder Jahreszeit einen verkehrsentschleunigten Übergang vom Areal der Stadtgalerien in die beiden Stadtbereiche Schwaz Stadt und Schwaz Dorf ermöglicht. Zusätzlich bietet eine Mauer Schutz vor dem Hochwasser. An einigen Stellen sind die Mauern durchbrochen und bieten ideale Anknüpfungspunkte an die Gassen der Altstadt. Auf Höhe der Häuser der Lahnbachgasse 17–19 führt ein Weg hinunter zum Rabalderhaus, dem Sitz des Museums „Kunst in Schwaz“. Vor dem Eingang steht neben einem großen Baum eine Skulptur von Rudi Wach, welche von weitem in der Winterstellergasse einen Abschluss bildet. Ausgehend von diesem stimmigen Vorplatz ergibt sich zur Kirche hinab eine schöne räumliche Abfolge von Gebäuden und Straßenräumen bis hin zum alten Friedhof (heute: Stadtpark). Rund um die Kirche gibt es weitere interessante Architekturen wie die Totenkapelle und den Arkadenumgang, welcher baulich in die höher gelegene Pölzbühne übergeht. Alles zusammen ein spannendes Ensemble, das innerhalb von 400 Jahren entstanden ist und immer wieder ergänzt wurde.7 Es zeigt sich hier ein schönes Beispiel für respektvolles Weiterbauen der historischen Stadt – ganz im Sinne des Tiroler SOG8, welches in Schwaz eine Schutzzone ausweist.
ein neues stück schwaz – das raiffeisenquartier
Was eine Schutzzone bewirken kann – und bei der Tabakfabrik bewirken hätte können – zeigt sich im jüngsten Viertel der Stadt Schwaz, dem Quartier am Raiffeisenplatz. Die Lage des 0,5 ha großen Grundstückes in der Schutzzone bedingte einen städtebaulichen Wettbewerb – ein zentrales Mittel zur Qualitätssicherung eines Stadtbildes nach dem sog – den die Architektin Silvia Boday gewann. Ausgehend von der denkmalgeschützten alten Post (heute: Raiffeisenbank) strickt ihr Konzept die Stadt sensibel und zeitgemäß in den nach Süden leicht ansteigenden Stadtraum fort. Die neuen Baukörper nehmen Straßenfluchten auf, ergänzen bestehende Gebäude und führen neue Gassen ein, die das vorhandene Wegenetz der Stadt bereichern.9 Die Gestaltung der Fassaden und der Details greift vorhandene historische Elemente von Schwaz auf und interpretiert sie neu.10 Eine Kritik sei jedoch angebracht: Ein zeitgemäßer Städtebau darf in Zukunft nicht ohne Erhöhung des Baumbestandes umgesetzt werden, d. h. der Wunsch nach Stellplätzen darf nicht höher bewertet werden als die notwendige Ökologisierung der Stadt.11
die eremitage
In diesem Absatz möchte ich einen Rückgriff auf meine Stadtstiche über Landeck und Imst machen. Beide Städte sind aufgrund ihrer Lage und Geschichte vom „Innsbruck-zentrierten“ Weltbild aus gesehen Provinz.12 Allerdings sind in beiden Städten seit den 1970er-Jahren musikalische Kulturinseln entstanden. Dasselbe gilt für Schwaz, wo 1974 im Haus Innsbruckerstraße 14 die „Eremitage“ gegründet wurde. Gert Chesi und andere „Kulturhungrige“ waren die Initiatoren dieser Kulturinstitution. Ausstellungen, Lesungen, Konzerte und Kabaretts wurden veranstaltet, mit damals oft noch weitgehend unbekannten oder nur für „Expert:innen“ bekannten Künstler:innen.13
In einem Gespräch mit dem Künstler Rens Veltman14 im Dezember 2024 habe ich notiert, dass in diesen Räumen Künstler:innen von Weltruf aus der Welt des Jazz gespielt haben – eben in Schwaz und nicht in Innsbruck. Die Liste jener, die dort – in „Ihrem Wohnzimmer“ – regelmäßig ihre Auftritte absolvierten ist lang.15 Zwanzig Jahre nach der Eremitage wurden 1994 die Klangspuren Schwaz gegründet und ein Jahr davor vom Schwazer Musiker Franz Hackl das Outreach Music Festival.
Allerdings gilt für Schwaz auch dasselbe wie für die westlichen Tiroler Städte. Deshalb sei folgender Satz aus dem Stadtstich Imst zitiert: „Dass kulturelle Initiativen und die Anwesenheit von kreativen Menschen sich nicht zwangsläufig auf die Baukultur oder den sensiblen Umgang mit dem Lebensraum auswirken müssen, wird in Imst Schwaz – leider – auf eindrucksvolle Weise sichtbar.“
epilog
Bei der Betrachtung eines räumlichen Gefüges, was eine Stadt zweifellos ist, erscheint vieles klar und selbstverständlich. Die Wahrnehmung der Qualitäten einer Stadt sinkt allerdings oft mit der täglichen Nutzung. Manche Besonderheiten fallen den regelmäßigen Stadtbenutzer:innen erst dann auf, wenn sie nicht mehr funktionieren, offensichtlich kaputt gehen oder nicht mehr vorhanden sind – Beispiel Tabakfabrik. Andere Aspekte – Frequenzverluste in der Altstadt oder auf Plätzen aufgrund von ausgesiedelten Gewerbe- und Handelsflächen – sind in der Architektur, Stadtplanung und Soziologie keine Überraschung mehr und sollten bei (allen) städtebaulichen Entscheidungen berücksichtigt wer-den – Stichwort Stadtgalerien.
Aus diesen Erkenntnissen entwickelte sich die Idee der Stadtstiche. Die Qualitäten der Tiroler Städte gilt es zu entdecken und zu beschreiben und im besten Falle kann man daraus lernen. Die Besonderheiten der Orte sollen den Bewohner:innen und Verantwortlichen in Folge bei einem Stadtspaziergang näher gebracht werden, um die im Ort „gebaute“ Grammatik zu erkennen, diese als Grundlage für die weitere Transformation des Stadtgefüges zu verwenden und damit die vorhandene „Stadtsprache“ der Baukultur weiterzuentwickeln. Das bedeutet nicht, dass „das Alte“ erhalten werden muss, sondern es ist jener Ansatz, der nicht alles an Struktur, Konzept und Materialität neu erfinden will, sondern vom Bestehenden ausgeht und dieses weiterbaut. Ein schönes Beispiel dafür ist das Haus in der Lahnbachgasse 8.16
Die Leser:innen, die Schwaz besser kennen als der Autor dieser Zeilen, mögen mir verzeihen, dass ich in meinen Beschreibungen einige Stadtteile schuldig bleibe. Aber wie der Epilog andeutet, gäbe es mehr zu erwähnen als hier beschrieben ist. Als Kompensation für die örtlichen Fehlstellen möchte ich mit dem ersten Satz des Textes enden: „Schwaz ist eine schöne Stadt“.
1 Stadtpalais Enzenberg, 1700 – 05, Franz-Josef-Str. 27; Fuggerhaus (heute Rathaus), 1505 – 10, Franz-Josef-Str. 2; Bürgerhaus (Fugger-Wohnhaus), 1520 – 25, Ludwig-Penz-Str. 21
2 Wohnanlage Ecke Ullreichstr. / Gilmstr. und an der Dr.-Dorrek-Str. der sogenannte Dorrekring, errichtet 1926 – 29 von Silvio Mohr und Robert Hartinger
3 Im Vergleich dazu wurde z. B. die Tabakfabrik Linz 1929 – 35 von den Architekten Peter Behrens und Alexander Popp erbaut.
4 Wettbewerb 2007, siegreiches Büro: Henke & Schreieck, Wien
5 Teilnehmende Büros waren u. a. Delugan Meissl Associated Architects, Rüdiger Lainer + Partner Architekten, Heinz Tesar (1939 – 2024)
6 Bemühungen, Städte in Tirol an den Inn zu bringen – wie z. B. 2008 in Innsbruck die temporäre Stadtstruktur „... ich will an den Inn…“ von columbosnext – sind in Schwaz ferner denn je, obwohl sich der Inn hier vom „Wesen“ eines Wildbaches emanzipiert hat und dadurch wesentlich mehr Möglichkeiten für Stadtbenutzer:innen vorhanden wären, als z. B. in Innsbruck.
7 Der Friedhof wurde bereits im Mittelalter angelegt, der ursprüngliche Theatersaal (heutige Pölzbühne) im 16. Jh. errichtet, die Arkaden im 19. Jh. fertiggestellt, der Turm beim Friedhof um 1910 und das heutige Gebäude der Pölzbühne nach einem Brand in den 1980er-Jahren wiederhergestellt. In der Kirche befindet sich mit dem Volksaltar (1990) eine der wenigen, in Nordtirol von Othmar Barth (1927 – 2010) gebauten Planungen – neben dem Schigymnasium in Stams.
8 Tiroler SOG – Tiroler Stadt- und Ortsbildgesetz. Schwaz hat auf Höhe der Altstadt zu beiden Seiten des Inn eine Schutzzone, welche die Bautätigkeit, das Weiterbauen im Kontext mit der bestehenden Baustruktur baurechtlich begutachtet.
9 In dieser angesprochenen Qualität der neuen Wege und Gassen ist auch der Umbau und die Erweiterung BH Schwaz mit Platzgestaltung zu erwähnen. Die Planung erfolgte durch Architekt Thomas Mathoy zwischen 2017 (Wettbewerb) und 2022. Diese Arbeit erhielt eine „Anerkennung des Landes Tirol für Neues Bauen 2022“.
10 Das „Quartier am Raiffeisenplatz“ (Planung: Silvia Boday) erhielt eine „Auszeichnung des Landes Tirol für Neues Bauen 2024“.
11 Ein Glücksfall für das Raiffeisenquartier ist zu erwähnen: Im Westen – direkt gegenüber einer neuen Gasse, auf der anderen Straßenseite der Ullreichstraße – kann der so genannte Mathoigarten betreten werden. Er ist einer der grünen, für das Stadtklima sehr wichtigen Orte in Schwaz.
12 Albert Dornauer beschreibt in dem Buch „Widerstand und Wandel – Über die 1970er-Jahre in Tirol“, dass Innsbruck in Bezug auf Clubs und Lokale in den 1970ern „die toteste aller toten Hosen“ war. (S. 51 ff.) und im weiteren auch, in welchen Landesteilen sich die Musikszene eher etablieren konnte.
13 Die Heimatblätter „Schwazer Kulturzeitschrift“ nennen in ihrer Ausgabe Nr. 20, 1988 Otto Schenk, Otto Grünmandl, Andreas Vitasek, Dietmar Schönherr, Thomas Larcher, Margit Stadler, Anton Christian, Ernst Fuchs, Friedensreich Hundertwasser, Hilde Goldschmid, H. C. Artmann, Wolfgang Ambros, Friedrich Gulda u. v. m.
14 Rens Veltman (geb.1952 in Schwaz), Künstler, lebt und arbeitet in Schwaz; 2022 Tiroler Landespreis für Kunst
15 Die „Schwazer Kulturzeitschrift“ nennt in ihrer Ausgabe Nr. 41, Dezember 1999 u. a. Chick Corea, Gilberto Gil, John Abercrombie, Pet Metheny, Cassandra Wilson, Art Ensemble of Chicago, Dave Holland, Myra Melford Trio u. v. m.
16 Geplant von Margarethe Heubacher-Sentobe (geb. 1945), Architektin, lebt und arbeitet in Schwaz; Projekte in Schwaz u. a. Haus Wagner (1976 – 78), Haus Bazanella (1985 – 87), Dachbodenausbau Veltman (2007)
Text: Werner Burtscher, erschienen in aut: info 1/2025
werner burtscher
geb. 1972 in Bludenz; 1994 – 2004 Architekturstudium an der Universität Innsbruck; 2004 Mitbegründer des Architekturkollektivs columbosnext; seit 2009 eigenes Atelier in Innsbruck, ab 2014 in Stams; seit 2019 Mitglied des Sachverständigenbeirates SOG-Tirol
Eine Spaziergang mit Architekt Werner Burtscher durch die Bezirkshauptstadt Schwaz.
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