Über die feinen Körner einer Stadt
Ein aut: feuilleton von Werner Burtscher
Josef Manola (1) schrieb im Frühjahr 2018 in einer Sonderausgabe des Falters (2) einen Text über die Tageszeitung „El País“, die in Madrid erscheint. Bei der Lektüre bin ich an folgender Passage hängen geblieben: „An den immer rarer werdenden Kiosken kann man ausschließlich Zeitungen und Magazine kaufen. Die Zeitungsverkäufer stapeln sie säuberlich in Stößen nebeneinander auf, sodass man sich schnell entscheiden kann.“
„… an den immer rarer werdenden Kiosken“, diese Textstelle setzte bei mir eine Folge von Gedanken zum urbanen Leben frei, denn diese Veränderung des Stadtbildes von Madrid kann man mittlerweile auch bei uns in Innsbruck verfolgen. Es wird jetzt keine elegische Skizze auf den Verlust des Vergangenen folgen, sondern ich werde den Versuch wagen, Gedanken über die „Feinkörnigkeit“ im Städtebau zu formulieren. In vielen städtebaulichen Diskussionen, Diskursen und Lehren wird über die Feinkörnigkeit der urbanen Strukturen gesprochen. Die Formulierung „feines Korn“ wird meist dazu verwendet, um der Tendenz zu großen, kompakten und wirtschaftlichen Gebäudestrukturen ein Gegengewicht zu geben. Oft wird das Einlösen der versprochenen Feinkörnigkeit, der Bearbeitung des urbanen Raumes zwischen den großen Volumen umgehängt. Die qualitative Gestaltung der urbanen Landschaft ist dem Grunde nach eine positive Tendenz. Qualitäten zur Verlängerung der Aufenthaltsdauer sind zum einen das Ziel und zum anderen der Versuch – eine These – die große Struktur irgendwie zu legitimieren bzw. um der Stadt im Gegenzug zu ihrer Verdichtung etwas zurückzugeben. Diesem Ansatz – hier große Struktur und dort der fein gestaltete Freiraum – fehlt allerdings die Vielfalt des öffentlichen Lebens(raumes).
Im Verständnis von Urbanität möchte ich jetzt – obwohl nicht naheliegend – auf Josef Frank (3) zurückgreifen und einen seiner Leitsätze anführen, den wir auch für die Stadt anwenden könnten – ohne zu wissen, ob er dies getan hätte. „Der Zweck eines Hauses sei jedoch ein anderer: Es ist nicht zum Kochen, Essen, Arbeiten und Schlafen da, sondern zum Wohnen.“ Angenommen man wendet diesen Satz auf den öffentlichen Raum an, dann fehlt diesem mittlerweile einiges, denn das Nebeneinander von Funktionen alleine ergibt noch keinen Raum für das Leben in der Stadt. Denn die Interaktion zwischen verschiedensten Tätigkeiten, die Lesbarkeit der Funktionen, die Verwendung des öffentlichen Raumes über den gesamten Tag, durch alle Jahreszeiten hindurch sowie seine Benutzung von unterschiedlichen Generationen und Vorlieben, macht erst das Leben in der Stadt aus.
In der Betrachtung der Landeshauptstadt Innsbruck gehe ich soweit, dass ich von einer drohenden Monokultur der angesprochenen Zwischenräume sprechen möchte. Die beiden übrig gebliebenen Funktionen im öffentlichen Raum sind, pointiert formuliert, folgende: Gastgarten bzw. Konsumraum und öffentliche Grünfläche. Andere Formen und Funktionen von Architekturen sind allerdings – um den Gedanken von Josef Frank aufzunehmen – dringend notwendig. Positive Beispiele, wie im letzten aut: feuilleton von Teresa Stillebacher thematisiert, sind dem Wesen nach sinnvoll und wichtig. Diese sind allerdings meist erkämpfte Sondertypen, die aufgrund ihres temporären Versprechens errichtet werden konnten. Manchmal mit kurzem Inhalt, manchmal für ein ganzes Jahr, manchmal für den Sommer oder manchmal für ein Konzert. Das ist aber zu wenig für die kontinuierliche „Bewohnbarkeit“ des öffentlichen Raumes. Es braucht mehr Kioske, aber warum?
Kleinere Einheiten mit klar zugeordneten Inhalten ergänzen die großen Häuser und sie ermöglichen uns, die Stadt eindeutig zu lesen und individuell zu nutzen. Ein klares Lesen von Funktionen bringt ein erhöhtes Verständnis für die „Alltagssprache“ einer Stadt und die richtige Zuordnung, denn ein Zeitungsstand ist ein Zeitungsstand und nicht eine Einheit in einem Einkaufszentrum. Sind kleine Gebäude mit einer Funktion belegt und werden vermehrt in die Stadt gesetzt, dann führt dies zu einer verstärkten Begegnung von Menschen mit ähnlichem Verhalten im öffentlichen Raum. Dies ist die unmittelbarste Weise für Kommunikation und Lebendigkeit im urbanen Raum. Der Würstelstand ist ein gutes Beispiel für so ein Bauwerk, er hat zwar eine eindeutige Funktion, gleichzeitig aber auch eine wichtige Kommunikationsfunktion. Allerdings zeigt dieser auch die Schwäche der Planung einer Stadt auf, denn an der Peripherie kann diese Institution wachsen und größer werden – es gibt nur wenige Beispiele von architektonischer Qualität –, in der Innenstadt wird ihm nur für wenige Stunden am Abend das Dasein gegönnt. Warum eigentlich? Manchmal würde ich mir wünschen, es gäbe in Innsbruck eine Tankstelle4 wie hinter dem Burgtheater in Wien, oder einen Würstelstand (5) wie am Graben oder einen Ticketkiosk (6) wie vor der Staatsoper. Und wenn wir noch einen weiteren Sprung in der Betrachtung wagen, dann könnten wir annehmen, dass Bernhard Tschumi mit dem Parc de la Villette (7) zwar eine Landschaft plante, allerdings war es im Grunde aber eine Strategie für die städtische Organisation von verschiedenen Funktionen in überschaubaren Häusern. (8)
1 Josef Manola ist österreichischer Journalist und Korrespondent des ORF für die Iberische Halbinsel und den Maghreb
2 Wiener Stadtzeitung – Sonderausgabe „die Tageszeitung“, Frühling 2018
3 Josef Frank, geb. 1885 in Baden bei Wien und verst. 1967 in Stockholm; Architekt; 1965 Preisträger des großen österreichischen Staatspreises für Architektur
4 Tankstelle am Josef Meinrad Platz, Wien I; Josef Falkner und Katsuhito Mitani, 1990
5 Würstelstand „Zum Goldenen Würstel“, Ecke Wiener Graben, Spiegelgasse, Wien I; Schuberth und Schubert, 2008
6 Ticket Kiosk „Wien-Ticket“, Herbert von Karajan Platz 1, Wien I; Luigi Blau, 1998 – 2000
7 Parc de la Villette, Paris 19. Arrondissement; Bernhard Tschumi, 1982 – 1998
8 Da wir davon ausgehen dürfen, dass das Fahrrad ein bestimmender Faktor der zukünftigen Mobilität von Städten sein wird, wären die angesprochenen kleinen Funktionseinheiten eine kluge Strategie, um diese sinnvoll zu unterstützen – vielleicht ein architektonischer und stadträumlicher Ansatz für Smart Cities.
(Text: Werner Burtscher, erschienen in aut: info 3/2018)