wolfgang pöschl: brief an dominique perrault zum rathaus innsbruck
ein aut: feuilleton, erschienen in aut: info, nr. 4/2010
Lieber Dominique!
Vor fast drei Jahren, als das Innsbrucker Rathaus erst kurz in Betrieb war, hatte ich Gelegenheit Dich zum Flughafen zu bringen. Damals habe ich Dir angekündigt, Dir nach einigen Jahren meine Erfahrungen mit dem Rathaus zu schildern. Ich wollte mich nicht zur üblichen vorschnellen Kritik hinreißen lassen; doch eines war mir schon damals klar: nur ein Franzose konnte auf die Idee kommen am höchsten Punkt des Rathauses nicht das Bürgermeisterbüro, nicht einmal den Gemeinderatssaal, sondern einen öffentlich zugänglichen Raum mit Rundumsicht auf die Stadt vorzusehen. Diese Zumutung wurde inzwischen durch eine versperrte Glasschiebetür rückgängig gemacht.
Gerade als sich der Aussichtsraum auch als fantastisch für Hochzeiten und Ähnliches geeignet erwies, erzwang jugendliche Feierlaune und Überschwang (vielleicht das größte Kompliment für den Rathausturm) die Verantwortlichen dazu den Aussichtsraum für die Öffentlichkeit zu sperren.
Leuten, die sonst zu so fantasievollen Mitteln wie Überwachungskameras und sogar Hochfrequenz-Lautsprechern gegen junge Ohren fähig sind, fiel in diesem Fall nur die Totalsperre für alle ein. Vermutlich kann jetzt ein Antrag auf Ausfolgung des Schlüssels gestellt werden.
Deine von Touristen, Schulklassen und Stadtflaneuren gleichermaßen geliebte neue Perspektive auf die Stadt ist damit in einem ähnlichen Zustand wie auch viele andere Errungenschaften der französischen Aufklärung in unserem wehrhaften Land Tirol.
Soweit die schlechte Nachricht zuerst.
Der Architekt eines Gebäudes ist dazu verdammt, vielleicht als Einziger das Ergebnis seiner Arbeit nie mit den unbefangenen Augen eines Stadtbenützers zu sehen, es nie so selbstverständlich wie im Rathaus tausende Passanten durchwandern zu können. Zugleich ist die Beobachtung des alltäglichen Lebens der Menschen eine der wichtigsten Quellen architektonischer Erkenntnis. Und es ist nicht leicht, die Berufskrankheiten des „architektonischen Blicks“ und der Eitelkeit zu überwinden, um zumindest Werke von Kollegen unvoreingenommen wahrnehmen und benützen zu können und sich dennoch der architektonischen Qualitäten bewusst zu werden und daraus zu lernen.
Dementsprechend war die schnelle Kritik mancher Architektenkollegen: „nichts Besonderes“, „im Detail zu plump“, „banal“ etc.. Ein geschätzter Lehrer unserer Architektengeneration schockierte mich gar mit der Aussage: „Das Rathaus ist gar keine Architektur!“. Meine eigene alltägliche Benutzung des Rathauses als Weg, als Geschäftsgalerie und auch als Amtsgebäude gibt mir die Gewissheit, dass diese Feststellung eindeutig als Kompliment zu werten ist; genauso wie alle Kritiken, welche den relativ unspektakulären Gesamteindruck als Mangel empfinden. Und bei manchen Details wird jeder nachsichtig sein, der je mit einer von einem Pyrophobiker geleiteten Baupolizei arbeiten musste.
Das Rathaus ist tatsächlich von unserer „Prachtstraße“ aus fast unsichtbar dank einer Bestandsfassade, deren Schutz mehr in der Gewohnheit als in ihrer Qualität begründet sein muss. Immerhin ist der Balkon ein Denkmal eines gewaltigen Irrtums: dort stand Hitler, als ihm viele Tiroler zujubelten.
Doch das Auge lenkt mehr den Touristen, der sich brav auf für ihn bereiteten Bahnen hält. Den Stadtbewohner leiten seine Füße; und die lieben Abkürzungen, trockene Quergänge und Schleichwege. Mir ist noch in guter Erinnerung, wie Du Dich im damaligen Architekturforum darüber beklagt hast, als Dir Müller, der Krämer aus Ulm, den öffentlichen Durchgang zur Fallmerayerstraße versperrte; nur die Hoffnung auf die Verbindung zur Anichstraße konnte Dich trösten, die glücklicherweise bald Wirklichkeit wurde.
Das Rathaus ist zu einem Stück Stadt geworden; auf allen Ebenen und in allen Dimensionen herrscht reges Leben; ebenso rundum, wo es den Stadtraum formt wie beim Adolf-Pichler-Platz. Vergessen ist der ratlose, düstere Unort an dieser Stelle, vergessen der trostlose Parkplatz im öden Rathaushof.
Leider ist dieses Musterbeispiel offensichtlich schon zu selbstverständlich, um andere zu beflügeln. Wo ist eine ähnliche Durchlässigkeit und Stadtqualität beim (Immer-noch-)Kaufhaus Tyrol, wo ist sie beim Landhauskomplex? Nur der Sparkassenplatz zeigt eine ähnliche menschenfreundliche und stadtbewusste Haltung und schafft mit seiner imperialen Verlängerung vor der BTV und vor allem zusammen mit dem Rathaus jene lebens- und liebenswerten Expansionsräume, die mehr noch als die neu gestaltete Maria-Theresien-Straße der Stadt wieder ein Zentrum geben und ihren Einwohnern auch ein (Über-)Leben in Zeiten des großen Gästeansturmes ermöglichen.
Alles in Allem ist das Rathaus ein sehr gelungenes Werk, das genau das tut, was gute Architektur im besten Fall kann: den Menschen einen liebenswerten Lebensraum bieten von der Garage bis zur Dachterrasse und in einem ganzen Geviert einer Stadt.
Mit Dank und Bewunderung,
Wolfgang P.
31. Juli 2010
aut: feuilleton
Die Rathausgalerien Innsbruck wurden 1999 –2002 realisiert. Dieser Brief, den Dominique Perrault in französischer Übersetzung persönlich erhielt, ist zugleich Beginn einer losen Reihe von „Nachbetrachtungen“, in der Bauwerke einige Zeit nach ihrer Fertigstellung einer erneuten Beurteilung unterzogen werden sollen.
Falls auch Sie sich an dieser Reihe kritischer Statements und gedanklicher Interventionen beteiligen möchten, senden Sie uns bitte Ihren Kommentar per E-Mail an office@aut.cc