„[ausstrahlen] - ausströmen, sich verbreiten, leuchten, erleuchten, senden, übermitteln, beeinflussen. Von einem fixen Punkt strahlt es in alle Richtungen. Die Strahlen sind oft nicht sichtbar. Radioaktive Strahlen bedeuten Gefahr. Sonnenstrahlen sind Energie, Wachstum von Pflanzen, Leben. Radiowellen sind Informationsstrahlen, die direkt aufs Gehirn wirken. Massenkommunikation verteilt sich gleichmäßig von einem zentralen Punkt. Auch Bauwerke haben solch eine Ausstrahlung und können ganze Städte beeinflussen. Wie charismatische Menschen verändern sie ihre Umgebung und haben eine ansteckende Wirkung. Oft können diese Strahlen auch blenden und ihre propagandistische Macht ganz unbemerkt entwickeln. Städte entwickeln sich um diese Reizpunkte, öffentliche Funktionen, Infrastrukturknoten oder Landmarks, und Regierende, Investoren oder Marketingstrategen wissen um diese Auswirkungen und Abhängigkeiten.“ (raumtaktik)
Friedrich von Borries, Matthias Böttger, Florian Heilmeyer: Fernsehtürme - 8559 m Architektur und Politik
Ob Moskau, Belgrad, Berlin oder Kairo - kaum eine Stadt konnte auf den demonstrativen Bau eines Fernsehturms verzichten. Die Fernsehtürme, die seit 1950 die Städte überragen, sind Symbole für gesellschaftlichen Wandel, politische oder wirtschaftliche Macht. Kein anderer Gebäudetyp war in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts politisch so aufgeladen wie die Fernsehtürme.
Die weltweite Verbreitung der Türme, die 1956 mit der Einweihung des Stuttgarter Fernsehturms ihren Anfang nahm, zeichnet die politische Geschichte des 20. Jahrhunderts nach: Auf die Systemkonkurrenz zwischen Ost und West folgte das Ringen der Global Cities um touristische und ökonomische Anziehungskraft. Die ersten Fernsehtürme entstanden in Europa, derzeit entstehen Neubauten fast ausschließlich in den aufstrebenden Staaten Asiens und im Nahen Osten.
Die von raumtaktik kuratierte Ausstellung versammelt so viele Fernsehtürme wie noch nie zuvor in einer Ausstellung. 25 Fernsehtürme aus Ashgabat, Auckland, Barcelona, Baghdad, Belgrad, Berlin, Brasilia, Guangzhou, Jakarta, Jekaterinburg, Johannesburg, Kairo, Las Vegas, Liberec, Moskau, Prag, Riga, Shanghai, Stuttgart, Taschkent, Teheran, Tokio, Toronto und Vilnius. Bauwerke, die durch die politischen Zeitumstände ihrer Errichtung geprägt sind und als ingenieurtechnisches Wagnis Zeichen des gesellschaftlichen Fortschritts sind. Dementsprechend haben die meisten von ihnen einen festen Platz in der Populärkultur ihrer jeweiligen Städte und Länder; sie werden geliebt oder gehasst, in Form von Souvenirs an Touristen verkauft und auf Postkarten abgedruckt. Mehr als bei allen anderen Gebäuden geht es bei den Fernsehtürmen buchstäblich um die Signalwirkung der Architektur.
Diesem Aspekt widmet sich auch die Ausstellung, in der die Besucher keine Architekturmodelle, Fotos oder Konstruktionszeichnungen finden, sondern Objekte der Alltagskultur: Briefmarken und Postkarten, Cocktailmixer und Käsespieße, Nachttischlampen und Schnapsflaschen, Stifte, Schneekugeln, Puzzle und Kerzen. Das aut wird zum Souvenirladen, der die Vielfalt der individuellen Aneignung der (Staats-)Architekturen dokumentiert.
Eine von Friedrich von Borries, Matthias Böttger und Florian Heilmeyer kuratierte Ausstellung, die von 3. Oktober 2009 bis 14. März 2010 im DAM - Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt am Main gezeigt wurde, gefördert von der Deutschen Funkturm
raumtaktik
gegründet 2003 von Friedrich von Borries und Matthias Böttger; raumtaktik beschäftigt sich mit den Produktionsbedingungen von Raum, mit den kulturellen, ökonomischen und politischen Parametern, von denen die Gestaltung von Architektur und Städtebau bestimmt werden; Friedrich von Borries ist Professor für Designtheorie und kuratorische Praxis an der HfBK Hamburg. Matthias Böttger unterrichtet an der ETH Zürich. Florian Heilmeyer ist Architekturjournalist, Kurator und immer wieder Raumtaktiker aus Überzeugung. Alle drei sind Jahrgang 1974 und leben in der Fernsehturmstadt Berlin.