El Salvador im Januar 2023: Das kleinste und zugleich am dichtesten besiedelte Land Mittelamerikas befindet sich im Ausnahmezustand, Präsident Nayib Bukele inszeniert sein hartes Vorgehen gegen die Bandenkriminalität medienwirksam, Berichte über Massenverhaftungen und Soldaten, die ganze Städte einkesseln, tauchen auch in Europa vermehrt in den Medien auf. Ehrentraut Katstaller-Schott lebt zu diesem Zeitpunkt im Alter von fast 99 Jahren zurückgezogen in ihrem Privathaus nahe der Hauptstadt San Salvador, das sie mit ihrem 1989 verstorbenen Mann Karl Katstaller geplant hat und in dem sich auch das gemeinsame Atelier befindet. Als wir es zu Jahresbeginn 2023 zum ersten Mal betreten, wirken die Zeichentische wie eben erst verlassen, in den Schränken und Regalen lagern unzählige Entwurfsmappen, Skizzen, Planrollen, Fotografien, Auftragsbücher, Briefe und persönliche Dokumente.
Etwa ein Jahr zuvor hat uns die in El Salvador geborene und heute in Innsbruck lebende Enkelin der beiden österreichischen Architekt:innen die außergewöhnliche Geschichte ihrer Großeltern erzählt, deren Werk in Europa nahezu unbekannt ist. Wir möchten einen ersten Schritt setzen, es sichtbar zu machen, vertiefen uns in das Archivmaterial, treffen Wissenschaftlerinnen der Architekturfakultät der UCA in San Salvador, folgen biografischen Spuren in die Studienzeit bei Lois Welzenbacher in Wien und zum abenteuerlichen Aufbruch im April 1952. Wir reisen zu noch erhaltenen Bauwerken im ganzen Land – zu Märkten, auf denen heute neben lokalen Agrarprodukten auch billiges Plastikspielzeug aus China verkauft wird, zu den vermeintlichen Bitcoin-Paradiesen am Pazifik, zu den weitläufigen Feldern der Landwirtschaftsschule San Andrés, zum desolaten Campus der staatlichen Universität, wo Graffitis an die von einem blutigen Bürgerkrieg geprägte Geschichte des Landes erinnern. Ikonische Werke, auf deren Fotografien wir im Atelier gestoßen sind, sind heute zum Teil stark verändert oder wurden durch Erdbeben zerstört, dennoch fügt sich aus vielen vor Ort gesammelten Eindrücken das Bild zweier an der europäischen Moderne geschulten Österreicher:innen, die nach und nach eine den Bedingungen des Landes gerechte Architektursprache entwickelt haben.
Im Juni 2024, wenige Monate nach ihrem 100. Geburtstag, ist Ehrentraut Katstaller-Schott in El Salvador gestorben. Sie und ihr Ehemann hinterlassen ein Œuvre, das den Bogen von der Alpinen Moderne Österreichs zum Kulturerbe Mittelamerikas spannt und für dessen vollständige Erforschung es in Zukunft weitere Initiativen braucht.
ivona jelčić
geb. 1975 in Innsbruck; freie Kulturjournalistin, Autorin und Moderatorin; Studium der Komparatistik und Romanistik; schreibt für die Tageszeitung Der Standard
und weitere Medien über Kunst, Kultur, Architektur und gesellschaftspolitische Themen; 2009 – 18 Leiterin des Kulturressorts der Tiroler Tageszeitung; Texte für Ausstellungskataloge; Gestaltung von Filmbeiträgen; Buchpublikationen: 14 Tage 1918; Haus Proxauf; Zwischen den Kontinenten
nicola weber
geb. 1973 in Innsbruck, Kuratorin und Kulturjournalistin; Architekturstudium in Innsbruck, Wien und den USA; seit 2002 in der Projektkonzeption und Vermittlung von Architektur, Stadtraum, Kunst und Design tätig, zuletzt als Geschäftsführerin von wei sraum Designforum Tirol; schreibt für Magazine und Fachzeitschriften und hat 2013 – 19 die aut-Sendereihe „Gespräche zur Baukultur“ auf Radio Freirad gestaltet; Publikationen: Kulturorte – Die Weyrer; Zwischen den Kontinenten