rainer köberl: maria giuseppina grasso cannizzo. die schönste form von transparenz
ein textbeitrag aus der publikation "loose ends", erschienen in aut: info, Nr. 2/2014
Ich lernte Maria Giuseppina Grasso Cannizzo 2006 anlässlich der Verleihung des „ECOLA Awards“ der Firma Sto in Apulien kennen. Maria Giuseppinas Umbau eines Einfamilienhauses in Ragusa und die Revitalisierung des ehemaligen Adambräus für aut. architektur und tirol und das Archiv für Baukunst erhielten beide einen Preis. Mittags und abends saßen meist Maria Giuseppina Grasso Cannizzo, Erich Wucherer, Helmut Dietrich, Hansjörg Ruch, Peter Breil und ich an einem Tisch. Das ergab sich zufällig und blieb merkwürdigerweise die ganzen drei Tage so. Wir waren uns alle sympathisch, kannten einander auch ein wenig – nur Maria Giuseppina kannte niemand. Die Ausstrahlung ihrer Person aber und ihre kleine bepreiste Arbeit beeindruckten.
Eigentlich schon dort dachten Erich Wucherer und ich daran, dass man im aut eine Ausstellung mit Maria Giuseppina machen könnte. Und immer wieder suchte ich im Internet nach ihren Kontaktdaten – es war jedoch nichts zu finden. Eines Tages öffnete ich zufällig eine dieser E-Mails von europaconcorsi oder archidaily. Es erschien ein Projekt von Maria Giuseppina Grasso Cannizzo, fotografiert von Hélène Binet, über die ich dann Maria Giuseppina kontaktierte und ihr den Vorschlag einer möglichen Ausstellung unterbreitete. Nach ihrem offenen Interesse folgte 2012 das erste Treffen mit Arno Ritter, dem Leiter des aut, anlässlich der Eröffnung der Architekturbiennale in Venedig. Zahlreiche Treffen für die Ausstellung und das Buch nahmen danach ihren glücklichen und teilweise schwierigen Lauf.
Ich weiß nicht genau warum, aber bei der Betrachtung von Maria Giuseppinas Arbeit kommt mir immer wieder die Geste einer Hand in den Sinn. Nicht Le Corbusiers erhobene oder in die Ferne schauende Hand, sondern eine flache „anbietende“ Hand, auf der etwas passieren kann, die etwas reicht, die etwas empfängt. Ich erinnere mich auch, wie Maria Giuseppina ihre Zigarette hält, nicht in aufrechter, sondern flach geneigter Hand. In ihrer Arbeit spürt man, dass der „ganze“ Mensch, der ganze Körper an der Schöpfung beteiligt ist. Ihre Projekte sind keine „Hirngeburten“, wenngleich offensichtlich präzises Denken für ihre Verwirklichung notwendig ist. Besonders offensichtlich ist diese Geste der Hand bei ihren frei stehenden Neubauten, dem Ferienhaus bei Noto und dem Kontrollturm im Hafen von Ragusa.
Obwohl es vielleicht im ersten Augenblick paradox erscheinen mag, erinnern mich Maria Giuseppinas Arbeiten auch an gewisse Aspekte in den Bildern Mark Rothkos, in denen trotz ihrer homogenen Wirkung der Prozess des Malens, des Übermalens durchscheint. Wie beim Blick auf einen locker mit Laubwald bestandenen Hügel im frühen Frühjahr, wenn bereits Knospen ansetzen und sich zu öffnen beginnen, und man durch alle Schichten bis auf die Erde sieht, und sich sogar das Leben in dieser, in langer Zeiten Folge, vorstellen kann. So spürt man in Grasso Cannizzos Bauten deren Entstehungsprozess von Beginn ihrer Befassung mit der Aufgabe bis zur Fertigstellung – man sieht die Zeit. Eigentlich die schönste Form von „Transparenz“.
Ein wenig erinnert ihre prozesshafte Herangehensweise an die von Hermann Czech, der davon spricht, dass jeder Bau Umbau ist, da jede Entwurfsänderung ein Umbau sei. Nur entspringt der Ansatz bei Maria Giuseppina keineswegs dem „wienerischen“ Denken, sondern er entstand unter hellstem sizilianischen Licht. Das muss etwas anderes sein! Die Schichten bleiben klar und doch oft auch rätselhaft, erschließen sich erst nach und nach in ihrer „Raison d’être“, die zu suchen sie anregen, die zu finden sie ermöglichen.
Was war schon da, war schon etwas da? Ist es geschlossen oder ist es offen? Ist es leicht oder verbirgt sich ein schwerer Kern? Geschah es von Anfang an oder veränderte es sich? Was hat sich verändert? Jedenfalls speichert diese Arbeits-weise Langsamkeit und Zeit, wie wir ihnen kaum noch begegnen. Tiefe entsteht in allen erdenklichen Dimensionen.
Textbeitrag von Rainer Köberl aus der Publikation „Maria Giuseppina Grasso Cannizzo: Loose Ends“, erschienen 2014 bei Lars Müller Publisher
Eine anlässlich der 2014 im aut gezeigten Ausstellung "Loose Ends" erschienene umfangreiche Monographie, die zugleich ein Manifest der Arbeitsweise von Maria Giuseppina Grasso Cannizzo ist. Preis Euro 40,00 zuzüglich Versandspesen
Eine von der sizilianischen Architektin als radikale Intervention und komplexe Transformation der Räume des aut konzipierte Ausstellung, die ihre architektonische Haltung sicht- und unmittelbar spürbar macht.
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