Mit „Loose Ends“ ist erstmals in Österreich eine Ausstellung von Maria Giuseppina Grasso Cannizzo zu sehen, einer der interessantesten Persönlichkeiten der zeitgenössischen europäischen Architektur. Trotz zahlreicher Auszeichnungen wie zwei „RIBA Awards/EU“, der zweifachen Nominierung für den „Mies-van-der-Rohe-Award“ oder der 2012 auf der „Triennale“ in Mailand verliehenen Goldmedaille für ihr – noch nicht abgeschlossenes – Lebenswerk ist Maria Guiseppina Grasso Cannizzo nach wie vor ein Geheimtipp geblieben.
Das mag einerseits an ihrer unprätentiösen Haltung liegen, zum anderen daran, dass sich der Großteil ihrer Bauwerke auf Sizilien befindet – also abseits der redaktionellen Wahrnehmung und der klassischen Architekturreise –, wo sie geboren ist und seit Mitte der 1980er Jahre wieder in Vittoria, einer kleine Stadt im Süden der Insel, lebt und arbeitet. Auf Sizilien realisierte sie zahlreiche Revitalisierungen und Transformationen von historischen Bauten, Ein- und Mehrfamilienhäuser oder auch öffentliche Projekte wie den Kontrollturm im Hafen von Marina di Ragusa. Minimale, selbstbewusste und zum Teil auch radikale Konzepte, die letztendlich immer offen für Veränderungen sind, die das Leben und der Lauf der Zeit mit sich bringen.
Ein wesentlicher Aspekt in der Arbeit von Maria Giuseppina Grasso Cannizzo ist, dass sie mit ihren Bauwerken keinen Absolutheits- oder Ewigkeitsanspruch erhebt, sondern die Verwandlung ihrer Gebäude im Gebrauch akzeptiert. Sie versteht sich weniger als dominante Autorin, die ihren Bauten eine persönliche Handschrift verleihen möchte, sondern sieht sich eher als Regisseurin, die zwar den Planungs- und Bauprozess pedantisch und manchmal auch manisch kontrolliert, sich aber vollkommen zurückzieht, sobald ein Werk fertig gestellt und an jene übergeben ist, die es nutzen und sich sukzessive aneignen.
Das Bewusstsein für die Vergänglichkeit oder die beständige Transformation von Bauwerken geht vielleicht auch auf die ersten Stationen des beruflichen Werdegangs von Maria Giuseppina Grasso Cannizzo zurück. So war sie nach ihrem Studium Assistentin von Franco Minissi bei den Restaurierungskursen an der römischen Architekturfakultät und hat später in Turin für „Fiat Engineering“ an der Rekonstruktion historischer Stadtzentren in der Basilikata mitgearbeitet. Die Zeit in Turin war für sie auch insofern prägend, als sie dort mit wesentlichen Protagonisten der zeitgenössischen Kunst wie Alighiero Boetti und Mario Merz in Kontakt kam. Bis heute verfolgt sie aufmerksam – auch als Sammlerin – die Entwicklung der zeitgenössischen internationalen Kunst und arbeitet bei ihren Projekten immer wieder mit KünstlerInnen zusammen.
Insbesondere die Auseinandersetzung mit der Konzeptkunst führte in ihrer Arbeit zum Paradigma, wonach ein Entwurf in erster Linie Denkarbeit ist. Am Beginn ihres Entwurfsprozesses stehen nie formale Fragen, sondern die Analyse der Rahmenbedingungen, des Kontexts und der spezifischen „Geschichten“ eines Projektes: der jeweilige Ort, die Bauaufgabe, die Wünsche und Vorstellungen der Bauherrschaft. Diese Vorgaben lösen bei MGGC einen Denkprozess aus, der – im Spannungsverhältnis zwischen strategischer Vorgehensweise und fantasievollem Ideenreichtum – zu spezifischen und radikalen architektonischen Lösungen führt, die jedoch immer von einem sehr sensiblen Umgang mit Raum, Material und Licht geprägt sind: Wie zum Beispiel eine fast minimalistische Skulptur, die als kräftiges Zeichen in der Landschaft sitzt (PRM2), ein mehr durch das Wegnehmen als durch das Hinzufügen transformiertes Einfamilienhaus (SPR), ein turmartiges Raumkontinuum mit eingehängten Ebenen und Betten, die zu schweben scheinen (GNS) oder ein in archaischer Landschaft aufgeständertes Haus mit einer auf Schienen verschiebbaren Holzbox (FCN).
ausstellung „loose ends“ Mit „Loose Ends“ konzipierte Maria Giuseppina Grasso Cannizzo eine Ausstellung als radikale Intervention und komplexe Transformation der Räume des aut, die ihre architektonische Haltung sicht- und unmittelbar spürbar macht. Inspiriert von sizilianischen Industrielandschaften mit ihren Öltanks, Bohrtürmen und Förderanlagen und auf die räumlichen Gegebenheiten des aut eingehend, schafft sie ein spezifisches Universum, in dem über das Hören, Riechen und Sehen die Sinne der BesucherInnen unmittelbar angesprochen werden. Parallel dazu bietet die Ausstellung einen Einblick in den Entstehungsprozess der Arbeiten dieser einzigartigen sizilianischen Architektin – von ihren Inspirationsquellen über die Entwurfsmethodik bis hin zu den fertig gestellten Projekten, die mittels großformatiger Fotografien von Hélène Binet sowie mit Fotobüchern und einem Film von Armin Linke präsentiert werden.
konzept und gestaltung Maria Giuseppina Grasso Cannizzo kuratorin Sara Marini special guests Hélène Binet, Armin Linke Ein großes Dankeschön an Wolfgang Hainz für seine sprachliche und fachliche Unterstützung an der Schnittstelle zwischen MGGC und aut. Dank auch an Rainer Köberl und Erich Wucherer für die Idee zur Ausstellung und an Veit Streli für die Planung und Umsetzung der Rauminterventionen von MGGC
publikation „loose ends“ Zur Ausstellung erscheint im Lars Müller Verlag die erste Monographie, die ein Manifest der Arbeitsweise von Maria Giuseppina Grasso Cannizzo ist. Versammelt in einer schwarzen Box befinden sich lose Blätter mit Zeichnungen, Skizzen, Studien, Fotografien und Texten, die vielstimmig von den einzelnen Projekten erzählen, sich vermischen wie überlagern und eine Abfolge möglicher Assoziationen und Interpretationen zulassen.
konzept Maria Giuseppina Grasso Cannizzo herausgeberin Sara Marini fotografien Hélène Binet, Armin Linke, Giulia Bruno textbeiträge Raoul Bunschoten, Pippo Ciorra, Marco De Michelis, Rainer Köberl, Sara Marini published by aut. architektur und tirol in Zusammenarbeit mit Lars Müller Publishers 16,8 x 24 cm (Box), 412 Blätter, ca. 400 Abbildungen, Englisch/Italienisch EUR 40,00 ISBN 978-3-03778-451-8
maria giuseppina grasso cannizzo geb. 1952 in Vittoria auf Sizilien; Studium der Architektur an der Universität in Rom „La Sapienza“; 1975 – 79 Lehrtätigkeit an der römischen Architekturfakultät bei Franco Minissi; 1980 – 86 tätig für Fiat Engineering in Turin im Rahmen der Rekonstruktion historischer Zentren der Basilikata; seit 1986 eigenes Atelier in Sizilien; seit 2005 Mitglied des Royal Institute of British Architects (RIBA); 2008 Teilnahme am geladenen Wettbewerb für die Gestaltung des italienischen Pavillons auf der 11. Internationalen Architekturausstellung „La Biennale di Venezia“; Ausstellungsbeteiligungen u. a. 2004 „Metamorph“, 9. Internationale Architekturausstellung „La Biennale di Venezia“; 2011 „Re-cycle“, Fondazione MAXXI, Rom; lebt und arbeitet auf Sizilien; Auszeichnungen u. a. 2003 und 2013 Nominierung für den Mies-van-der-Rohe-Award; 2005 und 2012 RIBA Award/EU; 2012 Goldmedaille für Lebenswerk, verliehen von der Jury der Triennale von Mailand
bauten und projekte (Auswahl) Zahlreiche Revitalisierungen und Umstrukturierungen historischer Substanz u. a. in Vittoria, Ragusa, Catania, Scoglitti, Mailand, Rom und Turin; 1991 EMV, Transformation des ehemaligen Albergo Italia, Vittoria; 1992 MSM, Zweifamilienhaus, Marina di Ragusa; 1993 PLV, Erweiterung Einfamilienhaus, Vittoria; 1994 GNV, Erweiterung Einfamilienhaus, Vittoria; 2000 CCR, Einkaufszentrum, Ragusa (Entwurf); 2001 DPN, Cantina Planeta, Noto; PLC, CafHé Mangiarebere, Catania; RBT, Dachbodenausbau, Turin; SBR, Wohnungsumbau, Ragusa; SPR, Umbau Einfamilienhaus, Ragusa; 2002 DMP, Ölfabrik, Menfi (Entwurf); GNS, Ferienhaus, Scoglitti; 2004 MP, Wettbewerb Machu Picchu, Peru; ALBA2000, Sozialer Wohnbau, Alba (Entwurf); 2005 PVA, Wohnungsumbau, Aci Castello; 2006 PVC, Revitalisierungsprojekt, Aci Castello; 2007 PMR, Städtebauliches Projekt im Hafen von Marina di Ragusa; 2008 GNR, Zweifamilienhaus, Ragusa (Entwurf); DPE, Weingut, Castiglione di Sicilia/Etna (Entwurf); PMR2, Kontrollturm, Marina di Ragusa; 2009 FCN, Ferienhaus, Noto; 2010 LLV, Wohnungsumbau, Vittoria; 2011 UOVO, Installation
Eine Ausstellung mit freundlicher Unterstützung von Köllensperger Stahlhandel und Metallbau Eberhart
Eine von der sizilianischen Architektin als radikale Intervention und komplexe Transformation der Räume des aut konzipierte Ausstellung, die ihre architektonische Haltung sicht- und unmittelbar spürbar macht.
Textbeitrag von Maria Giuseppina Grasso Cannizzo aus der Publikation „Loose Ends“, erschienen 2014 bei Lars Müller Publisher Übersetzung: Rosanna Dematté erschienen in aut: info, Nr. 2/2014
Ein Text erschienen unter dem Titel „La suberba umiltà di un’anti-archistar“ in der italienischen Zeitung „La Repubblica“ vom 13. September 2012 anlässlich der auf der Triennale von Mailand verliehenen Goldmedaille für das Lebenswerk an Maria Giuseppina Grasso Cannizzo. erschienen in aut: info, Nr. 2/2014
Textbeitrag von Rainer Köberl aus der Publikation „Maria Giuseppina Grasso Cannizzo: Loose Ends“, erschienen 2014 bei Lars Müller Publisher erschienen in aut: info, Nr. 2/2014
Eine anlässlich der 2014 im aut gezeigten Ausstellung "Loose Ends" erschienene umfangreiche Monographie, die zugleich ein Manifest der Arbeitsweise von Maria Giuseppina Grasso Cannizzo ist. Preis Euro 40,00 zuzüglich Versandspesen
Die Ausgabe 2/14 der Programmzeitschrift aut: info mit Hintergrundinformationen zur Ausstellung "Maria Giuseppina Grasso Cannizzo: Loose Ends" und zum Programm des aut zwischen Juli und Oktober 2014.
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