maria guiseppina grasso cannizzo: über den prozess
ein textbeitrag aus der publikation "loose ends"
erschienen in aut: info, Nr. 2/2014
Ein Stapel fliegender Blätter Papier, ein Windstoß und ein Mann, der sie verfolgt: Das ist eine Arbeit von Jeff Wall und auch ein Gemälde von Hokusai.
Dieses Bild fällt mir ein, da es vielleicht erklären kann, welche Art von Denkprozess bei mir ausgelöst wird, wenn ich einem neuen Projekt Form geben muss.
Die Blätter sind zum Teil schon benutzt, zum Teil sind sie noch leer. In dem Moment, in dem sie zu Boden fallen, bemerkst du, dass einige von ihnen Maße, Normen, Notizen, Wünsche, Ansprüche ... enthalten. So, wie du es als Kind mit gefangenen Insekten gemacht hast, beginnst du zwanghaft, all diese Blätter zu überprüfen, sie zu trennen und zu klassifizieren, nach einer von dir von Fall zu Fall festgelegten Ordnung. Du erkennst Unterschiede, bestimmst Verbindungen, teilst die Blätter in Mappen ein: eine Mappe nur für die Maße, eine andere nur für die Wünsche, eine dritte nur mit weißen Blättern. Du kannst dich aber auch dazu entscheiden, die einzelnen Mappen in mehrere Abschnitte zu unterteilen, für einen Wunsch und dessen Maße, zusammen mit der Norm, welche die erlaubte Mindesthöhe bestimmt, um im Wunsch wohnen zu dürfen.
Damit hast du nun ein genaueres Bild von der Situation: eine Mappe mit weißen Blättern und geordnete Mappen mit beschriebenen Blättern.
Mit diesen Mappen kannst du weiterarbeiten. Du kannst Blätter entfernen, andere hervorheben, wieder andere vorläufig zur Seite legen und damit nach und nach die Ziele und Grenzen eines noch nicht existierenden Projekts festlegen.
Schließlich legst du die Mappen mit den benutzten Blättern endgültig zur Seite und öffnest die Mappe mit den weißen, unbeschriebenen Blättern: Jetzt geht es darum, die innere Logik des Inhalts der Mappen zu erkennen und daraus eine Lösungsstrategie zu entwickeln.
An dieser Stelle nimmt das Projekt Gestalt an: eins zu hundert, eins zu fünfzig, eins zu zwanzig; jeder Schritt, mit dem du tiefer in ein Projekt eintauchst, verlangt nach einer neuen Überprüfung.
Am Ende gibt es keine weißen Blätter mehr, sondern nur noch Projektblätter. Der Bau beginnt. Unvorhersehbares tritt ein, vielleicht sind einige der Blätter mit wichtigen Informationen weggeflogen, Änderungen werden notwendig. Und dann wieder überprüfen, ändern, überprüfen ...
Mit der letzten Überprüfung ist der Bau abgeschlossen, das „Papierblätter-Gebäude“ hat Gestalt angenommen und beginnt die Bedürfnisse zu erfüllen, für die es erdacht wurde. Die Blätter sind nun dem Lauf der Zeit ausgesetzt, den Bewohnern und dem Einwirken unvorhersehbarer Bedingungen, sie werden zerknüllt, gebügelt, gefaltet, gefärbt, geklebt, zerrissen, gelöchert, geschnitten.
Das Papier akzeptiert seine eigene Vergänglichkeit, zerfällt am Ende seines Lebens in Bruchstücke, bildet neue weiße Blätter, die dazu verwendet werden können, einem neuen möglichen Projekt Form zu geben.
Textbeitrag von Maria Giuseppina Grasso Cannizzo aus der Publikation „Loose Ends“, erschienen 2014 bei Lars Müller Publisher Übersetzung: Rosanna Dematté
Eine anlässlich der 2014 im aut gezeigten Ausstellung "Loose Ends" erschienene umfangreiche Monographie, die zugleich ein Manifest der Arbeitsweise von Maria Giuseppina Grasso Cannizzo ist. Preis Euro 40,00 zuzüglich Versandspesen
Eine von der sizilianischen Architektin als radikale Intervention und komplexe Transformation der Räume des aut konzipierte Ausstellung, die ihre architektonische Haltung sicht- und unmittelbar spürbar macht.
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