maurizio bono: die stolze bescheidenheit eines „anti-architekturstars“
übersetzter abdruck eines artikels aus "la repubblica", erschienen in aut: info, Nr. 2/2014
Ein Bauwerk mit einem, von einem Standpunkt aus aufgenommenen Video zu zeigen – man findet dieses auf einigen Architektur-Websites – erscheint auf den ersten Blick so unstimmig und eigenartig wie eine Online-Weinverkostung: Was kann die Verfilmung eines Bauwerks, das man quasi statisch in Aktion beobachten kann, zur Wahrnehmung seines Konzeptes und Raumes beitragen? Dann aber, knapp bevor man die Geduld verliert, passiert es. „FCN 2009“, ein kleiner unaufdringlicher Würfel, der mit rohem Sperrholz verkleidet ist, setzt sich in Bewegung. Die Hälfte des Volumens des Gebäudes gleitet auf Schienen zur Seite, in der Mitte öffnet sich eine Terrasse, die scheinbar soliden Wände falten sich auf, offenbaren sich als jalousieartig verstellbare Lamellen. Mehr braucht es nicht, um sich zu wünschen, diesen Vorgang vor Ort und v. a. von innen erleben zu können. Geöffnet mutiert die „Schachtel“ auf einmal zu einem vielfältigen Raum, mit zahlreichen Ausblicken auf die Olivenhaine und das Meer um die Stadt Noto. Unterschiedliche Blickbeziehungen, Licht und Schatten verbinden den Innen- und Außenraum, die horizontale Verschiebung lässt Zwischenzonen entstehen und im Herzen des Gebäudes öffnet sich – wie von Geisterhand – eine gedeckte und vom Gelände abgehobene Terrasse, mit einem Boden aus Metallgittern.
Das Haus „FCN 2009“ ist einer der architektonischen „Stars der Saison“, einer der neun RIBA-Preisträger des „Royal Institute of British Architects“, die unter den 770 eingereichten, außerhalb von England realisierten Bauwerken, ausgewählt wurden und kam damit auf die Shortlist des „Stirling-Preises“. Die Planerin von „FCN 2009“, Maria Giuseppina Grasso Cannizzo – sizilianische Architektin mit Büro in Vittoria und dreißigjähriger Erfahrung im Bereich kleiner, radikaler und ausgeklügelter, meist privater Bauwerke (ihre erste Arbeit entstand 1974) – ist ein Anti-Star par excellence. Mit der Goldmedaille auf der diesjährigen Triennale wurde sie aber ins Rampenlicht der öffentlichen Wahrnehmung gestellt. Sie wird in Mailand den Preis für ihr Lebenswerk erhalten, gleichzeitig mit Gae Aulenti und Vittorio Gregotti, allerdings mit zwanzig Lebensjahren und vielen tausenden gebauten Kubikmetern weniger.
Nach Fulvio Irace, einem der sieben Jury-Mitglieder, ist sie Autorin von „kleinen Wundern zwischen Stolz und Bescheidenheit“. Ersteres bezieht sich auf eine gewisse Kompromisslosigkeit im Umgang mit dem Umfeld, zweiteres auf ihre Beharrlichkeit, Projekte aus scheinbar unattraktiven Ausgangssituationen heraus zu entwickeln. Und davon gibt es, gerade bei uns im Süden, sehr viele – Mittelmäßiges genauso wie vergammelnde Schwarzbauten. Zum Beispiel in Scoglitti, einem Ort am Meer, wenige Kilometer von Vittoria entfernt: Ebenfalls ein kleines Ferienhaus, aber diesmal nicht unter den Olivenbäumen von Noto, sondern im Kontext von „spontan“ errichteten und halbgebauten Häusern, so weit das Auge reicht. Der Bauherr träumte von drei Schlafzimmern und wollte dafür jeden vorhandenen Zentimeter opfern. Die Architektin hat ihn aber von einem einzigen, vertikal gestapelten Schlafzimmer für vier Personen, einem Zimmer unter freiem Himmel und minimalistischen, gewagten und derart außergewöhnlichen Lösungen überzeugt, dass das Haus letztlich auf der Ausstellung „Metamorph“ bei der Architektur-Biennale 2004 in Venedig entsprechend Aufmerksamkeit erregte. „Von jedem Raum geht der Blick auf die abgelagerten Schichten der umgebenden Schwarzbau-Landschaft“ – so der augenzwinkernde Schlusssatz der Projektbeschreibung. Das radikale Konzept besticht und interpretiert Wohnen neu.
Einige Zeit später war ein Einfamilienhaus in Ragusa an der Reihe, das vor seiner Transformation mit seinen auskragenden Dächern und Eckbalkonen wie ein „Disney-Alptraum“ ausgesehen hat: Alles musste weg, sogar der Verputz. Das Haus ist nun ein erdbebensicherer Kubus mit klaren Linien. Mit dem Bauschutt wurde der Garten aufgeschüttet, der mit Stegen aus Naturstahl mit dem Haus verbunden ist. Mit seiner Außenstiege, der über einem Teich schwebenden Terrasse und der mit einem Metallnetz überspannten Pergola geht das Gebäude einen Dialog mit dem Garten ein.
So viel Strenge hat natürlich ihren Preis. Über Grasso Cannizzo kursieren Gerüchte über abgelehnte Privataufträge und öffentliche Anfragen, die an den Absender zurückgeschickt wurden. Deswegen gibt es auch nur wenige öffentliche und großvolumige Bauwerke von ihr: Beim Kontrollturm am Hafen von Marina di Ragusa stapelte sie drei Schachteln aus Stahl, Faserzement, Glas und Holz so übereinander, dass das Gebäude zu einem Zeichen wurde, obwohl der Turm nur dreigeschossig ist. Wenn ein privater Bauherr mitspielt, so kann er schwindelerregende Erfahrungen machen: Eine ihrer letzten fertig gestellten und noch nicht publizierten Arbeiten ist der Umbau eines ganzen Stockwerks eines unscheinbaren Wohnhauses aus den 1970er Jahren in Ragusa, das vollkommen entkernt wurde. Der Innenraum wurde mit mobilen Einbauten so gestaltet, dass sich die Räume nach Bedarf verwandeln lassen. Der an die Terrasse anschließende Raum hat Decken und Böden aus Stahlblech, das Musikzimmer ist rot wie ein Theater, die Zimmer-Boxen sind weiß, mit einer an den Außenseiten vom englischen Künstler Richard Woods schwarz-weiß gestalteten Oberfläche.
Die Beziehung zur Kunst ist eine Konstante im Werk von Maria Giuseppina Grasso Cannizzo, die zu einer Zeit in Turin lebte, als diese eine der lebendigsten Städte zeitgenössischer Kunst in Italien war. Davor war sie Studentin und später Assistentin von Franco Minissi in Rom, dem Meister der Museumsgestaltung und der kritischen Restaurierung, der zusammen mit Cesare Brandi für die vorbildliche – heute leider gefährdete – Restaurierung der römischen „Villa del Casale“ an der Piazza Armerina verantwortlich war.
Wenn man sich fragt, woher ihre ungenierte Eleganz in der Anwendung unterschiedlicher Materialien kommt, so sollte man sich vielleicht an jene Zeit erinnern, in der es noch ein Skandal war, nicht mehr vorhandene Wände mit Polycarbonat wiederaufzubauen, um eine richtige Wahrnehmung der Original-Mosaike zu ermöglichen. Fragt man nach ihrer Haltung in Bezug auf die Transformation von Bestehendem, so könnte man auf das Prinzip des Restaurierens als Methode verweisen. Ihr beharrlicher Werdegang zwischen kleinen – großartigen – Umbauten und raumgreifenden, sich bewegenden Volumina, hat es verdient, mit einer Medaille für das Lebenswerk ausgezeichnet zu werden.
Dieser Text erschien unter dem Titel „La suberba umiltà di un’anti-archistar“ in der italienischen Zeitung „La Repubblica“ vom 13. September 2012 anlässlich der auf der Triennale von Mailand verliehenen Goldmedaille für das Lebenswerk an Maria Giuseppina Grasso Cannizzo (Übersetzung: Rosanna Dematté)
Eine von der sizilianischen Architektin als radikale Intervention und komplexe Transformation der Räume des aut konzipierte Ausstellung, die ihre architektonische Haltung sicht- und unmittelbar spürbar macht.
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