rainer köberl: ein brief aus vicenza
Das Spezielle und das Allgemeine
Der „Brief aus Vicenza“ entstand um 1983 im Rahmen einer Exkursion mit Leopold Gerstel. Rainer Köberl hat ihn an einen von ihm immer noch sehr geschätzten, älteren Studienkollegen gesandt, der bedauerlicherweise sein Architekturstudium abgebrochen hat.
Lieber P.!
Am vorletzten Tag unserer Vicenza-Exkursion waren wir in Venedig – um Mitternacht kamen wir zurück nach Vicenza – und ich hatte das Gefühl, nach Hause zu kommen. Am Morgen des nächsten Tages entdeckte ich räumliche Zusammenhänge, die selbst in den einfachsten Straßen dieses Gefühl für mich begründeten.
Wir sollten die großen Einfahrten bzw. Durchgänge in die „Palazzi“ der Stadt zeichnen. Ich war etwas spät dran und so stand in jedem schönen Durchgang bereits ein Zeichnender. Dazustellen wollte ich mich nicht. So spazierte ich weiter durch die Straßen und plötzlich verstand ich all diese Durchgänge, das Konzept von Vicenza, Palladio und vielleicht sogar die „Architektur“ an sich.
Klar und deutlich wurde das Prinzip, das ich zu erkennen glaubte, bei Durchgängen, die im Schnitt ungefähr die Maße von 4 m auf 4 m erreichen. Durch diese Durchgänge wird das Haus mit der Straße „verklammert“, werden Haus und Straße eine räumliche Einheit. Durch die Abstimmung der Proportionen von Straßenquerschnitt und „Eingangshalle“ lebt der Straßenraum in dieser weiter. Immer könnte das nächst kleinere Stadtelement eine Dimension des nächst größeren übernehmen: Der Durchgang übernimmt in etwa die „Breite“ der Straße und reduziert die „Höhe“, so wie die Straße die „Höhe“ des Platzes übernommen hat und die „Breite“ reduzierte und der Platz die „Höhe“ – die Vertikale – der Landschaft übernimmt und die Grundfläche reduziert.
„Genauso“ wie es Palladio macht. Vielleicht ist sogar sein „Hauptraum“ irgendwie von diesen Durchgängen inspiriert – mehr als vom „Atrium“. Palladios Villen übernehmen eine Dimension des Großraumes – die „weite“ Achse – und führen diese durchs Haus. Durch das Anheben über das Gelände, wird der Hauptraum nicht Durchgang sondern „Ziel“. Bei seiner Basilica „wickelt“ er diese Lauben um den alten Saal und nimmt eben damit eine Dimension des Platzes auf, verwebt den Baukörper mit dem ihn umgebenden Platz.
Heimgekommen, ist mir die Maria-Theresien-Straße richtig „schal“ vorgekommen – zu viel Fassade, zu wenig durchwirkte Raumstruktur.
Bis bald R.
Text: Rainer Köberl, aus aut: info 3/17