rainer köberl: plötzlich kann sich alles ändern
Die Entstehung der mehrstimmigen abendländischen Musik – nach Nikolaus Harnoncourt
Zur Abwechslung einmal etwas über Musik: Der gekürzte Text von Nikolaus Harnoncourt1 trägt das Potential in sich, anzuregen, über vieles Gegenwärtige nachzudenken, auch über „die Stadt“.
Herzlichen Dank an den Residenzverlag, speziell an Anna Świerczyńska, für die Erlaubnis, die Kürzung des Textes in der aut: info sowie auf www.aut.cc zu veröffentlichen.
„Das Besondere, Einmalige, was die abendländische Musik von jeder anderen Musik auch der hochstehendsten Kulturen unterscheidet, ist die Mehrstimmigkeit. Auch die reich instrumentierten chinesischen, japanischen und indischen Instrumentalwerke, so bunt und vielstimmig sie auch klingen mögen, sind im Grunde einstimmig. Alle Stimmen bewegen sich parallel zur Melodie in Oktaven, manchmal auch in anderen Intervallen; eine scheinbare Mehrstimmigkeit entsteht manchmal dadurch, daß manche Musiker die Melodie nur ganz einfach wiedergeben, andere mit anderen Instrumenten dieselbe Melodie zugleich reich verziert ausführen, das ändert aber nichts an der Tatsache, daß es sich eben nur um einstimmige Musik handelt.
Was war nun das musikalische Material, das die unverbrauchten Kräfte der Mitteleuropäer am Beginn der christlich-abendländischen Kultur vorfanden? Einmal auf kirchlichem Boden der Choralgesang. Der frühchristliche Choralgesang ist jedoch keine christliche Neuschöpfung. Viele Quellen, besonders der hebräische Tempelgesang, aber auch griechische, strömten hier zusammen.
Ein wesentliches Element des Choralgesanges, auch des gregorianischen, ist wohl für alle Zeiten in Vergessenheit geraten: nämlich der Rhythmus. Das liegt an der äußerst ungenauen Aufzeichnung durch die frühen Notenzeichen, die keinen Rhythmus ausdrückten. So vererbte sich die rhythmische Singweise von einer Generation auf die andere, bis sie schließlich in Vergessenheit geriet. Alle heute praktizierten Arten, gregorianischen Choral zu singen, basieren, was den Rhythmus betrifft, auf Hypothesen.
Als aber, inspiriert von der Melodik des Chorals, die Mehrstimmigkeit geschaffen worden war, mußte man die Notation reformieren und genauer festlegen, da ja die Gleichzeitigkeit mehrerer Stimmen einen genauen zeitlichen Ablauf erfordert. Und die hier fast plötzlich auftretenden Rhythmen waren von einer Kompliziertheit und einer Raffinesse, daß es schwerfällt, sich hier eine völlige Neuschöpfung vorzustellen, ohne Vorbilder, ohne Tradition. Und diese Tradition wird wohl im zweiten Hauptgebiet der Musik liegen, in der weltlichen Musik, die damals gleichbedeutend war mit Tanzmusik. So groß und befruchtend immer wieder der Einfluß dieser niedrigen Musik auf die hohe Kunstmusik war, so waren doch, beinahe das ganze Mittelalter hindurch, diese Musiker, die übrigens nach den Beschreibungen in der damaligen Literatur über ein enormes Können verfügt haben müssen, gesellschaftlich und religiös geächtet. Das dürfte wohl seinen Grund darin haben, daß wenigstens anfangs ein Großteil dieser Musiker, Gaukler, Feuerfresser und was sie nicht alles gewesen sein mochten, Asiaten und Afrikaner und gar keine Christen waren. Darin liegt auch die Erklärung, daß sämtliche abendländischen Musikinstrumente orientalischen oder maurischen Ursprungs sind.
Was diese Musiker mit ihren Lauten, Flöten, Fiedeln, Trommeln und anderen Instrumenten spielten, wissen wir nicht. Diese Melodien vererbten sich von einem auf den anderen und wurden niemals aufgezeichnet – einmal, weil diese Musiker über keine Notenschrift verfügten, aber auch, weil das dem improvisatorischen Charakter dieser Musik widerspricht.
Jedenfalls kann man mit Sicherheit annehmen, daß die einstimmigen Tänze, die die wandernden Gaukler im Mittelalter spielten und zu denen sie ihre grotesken Tänze machten, rhythmisch ebenso raffiniert und synkopenreich waren, wie es heute noch die nordafrikanischen und klein-asiatischen Tänze sind und wie es eben auch die frühe mehrstimmige Musik ist. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß für die mehrstimmige Musik von Anfang an Instrumente herangezogen wurden, während das beim Choralgesang nicht der Fall war.
Wieso es jedoch gerade in Europa, wahrscheinlich in irgendeinem spanischen oder französischen Kloster des 11. Jahrhunderts dazu kam, daß mehrere Musiker ganz verschiedene Stimmen zugleich musizierten – verschiedene Stimmen, die aber durch ein kompliziertes Ordnungssystem in eine geistig und gehörmäßig erfassbare Beziehung zueinander gebracht werden mußten – das wird wohl für alle Zeiten ungeklärt bleiben.“ (Nikolaus Harnoncourt)
Hintan stelle ich ein Zitat von René Clemencic:
„Am ehesten fühle ich mich in der Vokalpolyphonie des 13. Jahrhunderts zu Hause. Die gehört für mich zu den größten Dingen der Menschheit überhaupt, sowie die Pyramiden oder die gotischen Kathedralen. Es sind Klänge die unserem von der Klassik geprägten Musikverständnis kaum ferner stehen könnten, die uneingehörten Ohren so fremd klingen, als wären sie außerirdisch. Und überirdisch schön.
Sie vereinten in ihrer Musik drei und mehr gänzlich verschiedene Stimmen, jede mit einem anderen Text, gerne auch in unterschiedlichen Sprachen. Da erklingen gleichberechtigt nebeneinander etwa ein höfisches Liebeslied, ein volkstümlicher Tanz, ein geistlicher Gesang.
Was für eine grandiose Idee, dass man in der Musik gleichzeitig ganz verschiedene Welten zusammenbringt, tönende Monaden zu einer klingenden Weltordnung fasst. Das ist kosmisch.“
1 Dieser Text von Nikolaus Harnoncourt ist meine Kürzung eines Teils seines Vortrags „Von den Wurzeln der abendländischen Musik zur Revolution um 1600“, geschrieben 1965, veröffentlicht in „Nikolaus Harnoncourt: Über Musik. Mozart und die Werkzeuge des Affen“, herausgegeben von Alice Harnoncourt, erschienen im Residenz Verlag, 2002
nikolaus harnoncourt (1929 – 2016)
Nikolaus Harnoncourt war Cellist und mit seinem 1953 gegründeten „Concentus Musicus Wien“ ein Vorkämpfer für historisch „richtige“ Aufführungen „alter Musik“. Als Dirigent leitete er auch große Orchester. Zahlreiche Bücher über Musik erschienen im Residenzverlag Salzburg.
rené clemencic (1928 – 2022)
René Clemencic war Organist, Cembalist und Blockflötist, lebte in Wien und gründete 1967 das Ensemble „Musica Antiqua“, zehn Jahr später das „Clemencic Consort“, mit denen er sich in sehr variablen Besetzungen der „historisch informierten Aufführungspraxis“ widmete. Clemencic wirkte auch als Komponist.
Ein Beitrag von Rainer Köberl, aus aut: info 1/25