volker giencke: ein teil von mir ist sprache
ausstellungEine komplexe Raumtransformation von Volker Giencke anlässlich der Beendigung seiner Lehrtätigkeit an der Universtiät Innsbruck.
weiterlesen …gedanken gesammelt, erschienen in aut: info, nr. 1/2015
tag der abrechnung
Fußballspiel Schweiz gegen Kroatien, im Juni 2004
Zu spät aus London in Wien angekommen. Flug nach Graz versäumt. Lounge aufgesucht. Ein fürchterliches Match zu zwei Drittel miterlebt – immer im Glauben, es würde sich etwas zum Guten ändern ... Schweiz gegen Kroatien. Ein Gestolper bei jeder Ballberührung. Unendlich viele fielen bei jeder 2. Ballberührung einfach um, bissen ins Gras, weil Ball war keiner mehr da.
Schließlich lief der Schweizer Tormann dem Ball nach, der auf sein Tor abgeschossen worden war. Er erreichte ihn. Blieb halb tot liegen, den Ball fest umklammert.
Spitze dachte ich mir – wie in der Architektur. Kein Spiel. Ein Gewürge. Fürchterlich. Jeden Moment erwartete ich, dass sich der Fernseher von selbst ausschalten würde.
Schweiz und Kroatien wurden disqualifiziert. Das war meine Entscheidung. Der Schiedsrichter lief laut schreiend vom Spielfeld. Ich habe ihn verstanden!
die österreichische provinz
Jänner 1986
Der Wahnsinn des Tages: Ich sitze im Atelier und schreibe, weil ich muss. Das Bewusstsein, fünf Minuten bis zum Café Rosenhain zu haben, hält mich am Leben und am Tisch. Niemand ist hier, Telefon hebe ich nicht ab, Ferien sind und ich arbeite. Ach Gott, wie liebe ich dieses Land, seine Schönheit, die durch nichts, auch nicht seine Einwohner, umgebracht werden kann. Wie viele Architekten der größten Kategorie in Österreich kenne ich? Vielleicht fünf. Und wie viele wollten zum x-ten Mal das Land verlassen und sind noch immer hier? Fünf. „Die Wahrheit ist, daß wir uns nicht mehr trennen können, ich werde dir überall hin folgen, ich werde unter deinem Dach leben, wir werden denselben Schlaf schlafen ... Ich hatte zugestimmt, daß man mich in eine geschlossene Abteilung verlegt. Vorübergehend, sagte man mir. Wenn wir uns im Freien aufhielten, sprang mir ein anderer Insasse, ein weißbärtiger Greis, auf die Schultern und fuchtelte über meinem Kopf herum. Ich sagte dann immer zu ihm: ‚Du bist also Tolstoi?‘. Der Arzt hielt mich deswegen für ernst-lich verrückt. Am Ende trug ich alle Welt auf meinem Rücken spazieren, ein Knäuel engverschlungener Wesen, eine Gesellschaft reifer Männer, die durch den vergeblichen Wunsch nach Herrschaft – Ausdruck einer unglücklichen Kind-heit – sich mit der Höhe meines Rückens begnügten. Und wenn ich dann unter ihnen zusammenbrach (schließlich war ich ja kein Pferd), überhäuften mich die meisten Kameraden, mit Schlägen. Das waren fröhliche Augenblicke.“ (Maurice Blanchot in „Critique“)
Ich werde den Tyrolean Airways nie verzeihen, dass sie den Flug Graz – Innsbruck und retour ersatzlos gestrichen haben. Auch für die Schönheit hat man in diesem Land noch nie etwas übrig gehabt. Es gibt zuviel davon. Man lebt mit ihr und stirbt in ihr.
tarvis oder sonst irgendwo auf der welt
13. Dezember 2003
Da ich nichts zu sagen habe, ein belangloser Brief. Es ist kariertes Papier – kein weihnachtlicher Brief. Ich sitz in Tarvis – bei Gott nicht eine Reser-ve – Bethlehem ... im „Stefania“. Das Lokal – normalerweise Wallfahrtsort der Samstagnachmittagskärntner – ist schwach besetzt. Ich habe mich in die Ecke gedrängt und überblicke fast alles.
Wenn mich etwas weihnachtlich stimmt, dann die Überraschung, dass anscheinend sämtliche Kärntner Intellektuellen einen Ausflug nach Tarvis, ins Stefania machten – offensichtlich unabhängig voneinander.
Am Tisch neben mir sitzt ein Regisseur, dessen Namen mir nicht einfällt, neben ihm ein amerikanischer Schriftsteller, den ich nicht kenne, und daneben eine japanische Lyrikerin. Takanabe heißt sie, glaube ich. Sie ist überraschend hübsch – ich bemüh mich, nicht zu oft hinzuschauen. Jedenfalls hat sie das letzte Mal gelächelt ...
Am Tisch gegenüber sitzen Architekten, die ich namentlich nicht kenne, sprechen über das soziale Engagement usw. Ich bin völlig perplex.
Diagonal durch den Raum, über Tische und Sessel gestolpert, sitzen wohl Ärzte. Auch sie unterhalten sich nicht über das Wetter. Ab und zu werfen sie einen Sprachfetzen zu mir her, von Ethik und Pflicht zur moralischen Hilfestellung sprechen sie. Ich bin irgendwie in eine Weihnachtssendung geraten, sollte lange schon in Klagenfurt sein, konnte nicht aufstehen, musste sitzen bleiben und zuhören. Meine Landsleute, Intellektuelle, ein Wunder.
Die Japanerin ist jetzt aufgestanden, hat sich von mir auf deutsch verabschiedet. Bin irgendwie verwirrt, hab nur höflich genickt.
Jetzt, sie ist kaum weg und ich wollte eine Trauerminute einlegen, kommt Michael Pfleger, der Intendant des Klagenfurter Stadttheaters, bei der Türe herein. Ich wollte gerade aufstehen, doch er will mit mir reden, über „Der Süden lebt“ (stimmt offensichtlich). Also bleib ich sitzen.
architektur in/aus/für innsbruck. eine krankheit – ein experiment?
Innsbruck, Mai 2012
Wenn man sich heute in Graz in den Zug nach Innsbruck setzt, steigt man zweimal um und kommt nach ca. 6,5 Stunden gerädert an. Auf einem Bahnhof, der die Stadt in ein Davor und ein Dahinter teilt, wie das Bahnhöfe ohne zu fragen schon immer getan haben. Jedenfalls lädt dieser Bahnhof nicht zum Aussteigen ein.
Es ist schon länger her, da lag Innsbruck noch auf der Strecke Graz – Zürich – Paris mit Speisewaggon, Büroabteil und 5 Stunden Fahrzeit. Viel zu lange für einen beschäftigten Menschen, aber doch mit der Möglichkeit, die Zeit sinnvoll tot zu schlagen. Und der Bahnhof in Innsbruck sagte Grüß-Gott und nicht Hallo. Hallo, Sie sind in Tirol und nicht in der Schweiz. Na, Gott-sei-Dank. Man wird bescheiden, auf der Suche nach Architektur.
Wenn man heute von Graz nach Innsbruck fliegt, passiert man Wien-Schwechat, den Flughafen neben dem Zentralfriedhof mit dem neuen, schwarzen Terminal, der aussieht wie ein riesiges Grabmal, ein Kenotaph für Milliarden Euro und für das Nichts in der Architektur. Zugegeben auch der Bestand ist provinziell, aber welcher Flughafen außer Berlin-Tegel verdient es, in den Neufert der neuen Zeit aufgenommen zu werden? Berlin-Tegel wird bald abgerissen und vergessen werden, wenn Berlin-Brandenburg endgültig in Betrieb geht, eine weitere Fitness-Meile neben dem Herzinfarkt-Parcour Frankfurt und der Parkgarage in München.
Also ok. Der Flug nach Innsbruck über Wien ist schön. Aber um wieviel schöner war der Direktflug Graz – Innsbruck – Graz, die Querung des Alpen-Hauptkamms, vorbei am Glockner, hoch oben über tiefen Tälern, in denen Menschen wohnen. Ja, dieser Flug war immer wieder eine Droge, die einen am Leben erhielt. Und der Flughafen in Innsbruck? Ein phänomenales Schrägdach zum Vor-feld mit Stäben, an denen eine Terrasse hängt, gebaut in den 1960er Jahren. Vor diese Terrasse hat man nun, 2011, eine erdgeschossige Schwerkonstruktion gebaut, deren Dach über die Terrasse ragt, so dass der Blick auf das Vorfeld perdu ist. Niemand würde angesichts dieser Idiotie vermuten, dass es in dieser Stadt eine Architekturschule gibt, die sich ehrlich bemüht, ein magischer Ort in der Wunderwelt der Architektur zu sein. Aber in der Welt anzukommen, heißt noch lange nicht, in Innsbruck zu sein.
Innsbruck ist groß genug als Stadt, alle menschlichen Neigungen öffentlich wirksam werden zu lassen. Zwischen schwer Begabten und verwoben mit sich Kämpfenden, machtgeilen Ohnmächtigen, feinsinnig Geistigen und skrupellosen Mikroben, erfinderischen Künstlern, eitlen Gecken und schwachsinnigen Wortführern ist hier alles zu Hause – wie in der großen Welt auch.
Kollegen auf der Flucht, die zum Besten gehören, ebenso wie Kollegen, trickreich und schlau, und die begabtesten Mäusefänger der Stadt. Und die Göttin des Glücks wird von Löwinnen zerris-sen, von ArchitektInnen, die sich als keine demaskieren und die so sind wie man sie bisher wahrgenommen hat: als freundliche und unglückliche Gestalten. Gestalten, die das Glück der anderen nicht ertragen. Man bekommt Angst vor diesen, die in Jurien sitzen und Preise vergeben. Statt zu schreien, schweigt man, und möchte sein Gesicht verbergen vor Scham. Aber dann spielt plötzlich Alexandre Tharaud die Pastorale in C-Moll in deinem Kopf, und du vergisst die Ungeheuer, die die Vernunft und der Neid hervorbringen. Und selbst
die Zwerge, die trotz dickem Bauch lange Schatten werfen, verschwinden im Land des Vergessens.
Ich denke, ich denke nichts. So viele Kilometer verbraucht in all den Jahren für Architektur ohne Architekten. Architekturschulen sind für Studierende da. Schlussendlich die Erfahrung, dass 10 bis 15 % dieser Studierenden interessiert und engagiert sind. Gott-sei-Dank sind wir eine Massenuniversität und 15 % von 1.400 sind 210. Soviele und nicht mehr Architekturstudierende hat ganz Norwegen. Viele von diesen 210 sitzen in den Zeichensälen und säßen sie nicht dort, sie säßen nirgendwo. Aufgabe der Architektur ist es, durch positive Intelligenz und fachliche Kompetenz die Welt zu verändern, im Sinne der Kunst und des Spektakels, aber nicht des modischen Klamauks; im Sinne des Experiments als konkreter Utopie; im Sinne des technischen Fortschritts und der Erfüllung ethischer Funktionen. Die Zeichensäle an der Uni Innsbruck sind zu Reservaten der Architektur geworden. Sie sind Stätten, an denen ein geistiges Asylrecht ausgeübt wird, ohne dass dieses explizit ausgesprochen worden wäre, gegen die Hürden der Administration, des Nachtdienstes und der Hausmeisterfraktion.
Studierende, die es mit der Architektur ernst meinen, brauchen ein geistiges Asylrecht, früher oder später. Baulich verwirklicht ist unser Asyl in den Zeichensälen. In diesem Sinne sind die Architekturzeichensäle an der Universität Innsbruck die Rückversicherung für die vom Aussterben bedrohte Art der engagierten, unbeugsamen und ewig ihrer Aufgabe verpflichteten Architekten und Architektinnen.
olifantsvlei – architektur für kleine menschen
Innsbruck, November 2006
6 Wochen in Afrika. 42 Tage zu je 15 Arbeitsstunden. 32 Studierende und 3 Assistenten, die in dieser Zeit Architekten wurden. Schneller hat noch niemand Architektur studiert oder gar ein Haus gebaut – und die Landschaft dazu. Und was für ein Haus!
Der alte Pfarrer, der den Kindergarten in einer berührenden Zeremonie einweihte – jeder verstand plötzlich Zulu – und sich dann wie ein Kind in einer der Betonröhren versteckte, aus der er selbst nicht mehr herauskam oder herauskommen wollte?! Die Eltern und Lehrer, die mit ihrer Verwandtschaft singend durch den Kindergarten zogen, jeden Raum mit der Freude begrüßten, mit der man liebe Menschen empfängt?! Das ist der Dank, den diese Studierenden verdienen. Die Orden, die ihnen meine Universität später verleihen wird, sind wie der Neid, der sie hier im alten Europa ihr Architektur-Leben lang begleiten wird. Verzichtbar.
Unsere Studierenden haben reich für Arme gebaut. Ich verneige mich vor jedem von ihnen. Es gibt kein berührenderes, kein größeres Geschenk, das Architekten geben können. Die Menschen, für die dieses Haus gedacht ist, haben es verstanden. Cyril Ramaphosa, ANC Sekretär und engster Mitarbeiter Nelson Mandelas, hat mich gebeten, diesen Kindergarten zum Anlass zu nehmen, den kulturellen Austausch zwischen Südafrika und Österreich überhaupt oder neu zu begründen. Ich werde es tun.
genius loci. der teufel und der liebe gott
Beitrag zur Ausstellung „genius loci. vermessungen zu architektur und tirol“, aut. architektur und tirol, 2007
Dass die Tiroler wilde Leute sind, weiß die Welt. Die hohen Berge sind aber nicht bloß Hintergrund für sportliche Höchstleistungen, sondern in ihrer Abgeschiedenheit auch Orte einer Geistigkeit, die uns modernen Menschen fremd ist.
Man sagt, dass in Dörfern mit mehr als einer Kirche der Teufel sein Unwesen besonders arg trieb. Um ihn zu beherrschen, musste man zwei Kirchen bauen. Wenn nun gar drei Kirchen in unmittelbarer Nähe zueinander errichtet wurden – wie das im südtirolerischen Dreikirchen der Fall ist –, kann es nicht mit rechten Dingen zugegangen sein und zugehen. Wir gehen heute davon aus, dass alles im Lot ist, d. h. der Bau der drei Kirchen seine Wirkung zeigte. Allerdings: Der Ort bleibt besonders.
100 Höhenmeter weiter liegt das Haus Baldauf, weitere 150 m darüber das Haus Settari. Beide Häuser von Lois Welzenbacher in den 1920er Jahren geplant und gebaut. Eine romantische Architektur von zugleich starker Funktionalität.
Den Settaris, einer Bozner Kaufmannsfamilie, gehörte der halbe Berg – Ergebnis einer bewuss-ten Familienpolitik Ende des 19. Jahrhunderts: „Heinrich Settari schenkte seiner Frau Johanna zu jeder Geburt eines Kindes eine Wiese oder einen Wald in der Gegend“. Johanna Settari gebar 15 Kinder ...
Das eigentliche architektonische Highlight der Gegend ist aber der Gasthof Briol. Mit dem Auto so gut wie nicht zu erreichen, präsentiert sich der Gasthof Briol als umgebautes altes Wirtshaus mit flachgeneigtem Pultdach, vor das an drei Seiten
die Fassaden hochgezogen sind.
Achteckige, weiß lackierte Säulen tragen vorgesetzte Loggien, die talseitig die neue Fassade aus Lärchenholz bilden. Es ist eine Fassade von großer Eleganz, konstruktiv feinsinnig komponiert und unverwechselbar. Das Gegenteil von rustikal ist die Fassade aus Holz, einfach sind die Tische und Sessel, intelligent sind die Details. In der Wiese oberhalb des Hauses liegt am Scheitel des Hügels ein ovales Schwimmbecken, dem das Wasser bis zum Rand steht. Es ist das blaue Auge des Himmels, in das wir hineinspringen und aus dem wir, – zumindest die Wohlstands-Schlaffis unter uns –, neugeboren wieder auftauchen. Dafür gibt es kein Fließwasser in den Zimmern. Wozu auch?
Architekt dieses Umbaues, der Ende der 1920er Jahre stattfand und bis heute unverändert geblieben ist, war der Maler Hubert Lanzinger, Schwiegersohn der Familie Settari. Hubert Lanzinger, Innsbrucker, studierte Malerei an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Er machte die Familie Settari mit Lois Welzenbacher bekannt, war aber auch beeinflusst von Adolf Loos. Mit dem Gasthof Briol hat er 1928 an einem magischen Ort mit wenig Mitteln und großem Einfühlungsvermögen ein modernes Beispiel für alpine Architektur geschaffen. Später wird Hubert Lanzinger der bedeutendste Maler für Hitler-Portraits werden. Das Leben ist ohne Gnade.
zum verlust des subversiven an unseren universitäten
Innsbruck, Jänner 2007
Schon die Tatsache, dass man das Subversive als Titel einer Betrachtung zum Zustand unserer Universitäten nimmt, zeigt, wie sehr dieser Begriff an Sprengkraft verloren hat. Das Subversive, das ursprünglich ein elementarer Bestandteil im kritischen Denken der Intelligenzabteilung unserer Gesellschaft war, und wie eine Droge unter Vertrauten gehandelt wurde, ist Gegenstand bestenfalls geschichtlicher Betrachtungen über den Zustand der politischen und wirtschaftlichen Welt geworden. Man nimmt gar nicht an, dass Revolution als Verwirklichung von Vision noch passieren könnte und die Verbesserung gesellschaftlicher Zustände ein moralisch-ethischer Auftrag ist. Viel mehr sind unsere Universitäten heute Vorfeldorganisationen einer ökonomischen Entwicklung, in der wirtschaftliche Prosperität, d. h. wirtschaftliches Wachstum, durch kurzes Studium und rationalen Arbeitseinsatz bewusst auf Mittelmäßigkeit und allgemeine Zufriedenheit setzt. Weder werden Bekenntnisse verlangt, noch sind außerordentliche Leistungen erwünscht, die sich nicht direkt vermarkten lassen. Erfolgreiche Lehrer und erfolgreiche Studenten sind jene, die ein Schulsystem umsetzen, das den vorgegebenen Lernerfolg mit Hilfe eines Punktesystems bewertet und persönliche Lösungsansätze verhindert.
Das Revolutionäre wird wie ein Kleidungsstück in den Warenkorb gelegt, ein Kleidungsstück, das man sich anzieht, wenn man den Umsturz in den eigenen vier Wänden plant, seinen Kindern imponieren will oder seinen Partner betrügt. Da revolutionär zu denken nicht einmal mehr schick ist, und gruppendynamische Prozesse aufgrund des personellen Mangels nicht mehr stattfinden, ist die Isolation derer, die verändern wollen, Schicksal. Hakuna Matata heißt das Zauberwort.
die kurve kratzen
Graz, Dezember 2002
Die gegenwärtige Unsicherheit, die den Berufsstand der Architekten erfasste wie eine schleichende Krankheit, hat vor allem damit zu tun, dass die Verantwortung des Architekten in unserer Gesellschaft nicht definiert ist.
Viele Kollegen sehen die Aufgabe des Architekten darin, ein Bauwerk funktionell richtig und finanziell im Kostenrahmen zu planen. Tatsächlich sind aber diese beiden Parameter Voraussetzungen für jedes Bauwerk, dem eine Benützung zugedacht ist. Wenn Architektur „Baukunst“ ist, dann ist die Nutzung des „Kunstwerkes“ das eigentliche Charakteristikum der Architektur.
Die Tatsache, dass Architektur „benützt“ wird, unterscheidet sie in jedem Falle von einer Skulptur. Nutzung als Bedingung bedeutet, dass Architektur viel mehr sein muss als die bloße Erfüllung funktioneller Anforderungen. Dies zu betonen, ist Inhalt jeder architektonischen Bemühung, egal ob es sich dabei um projektierte oder verwirklichte Architektur handelt. Es ist für die Standortbestimmung der Architektur in unserer Gesellschaft von großer Wichtigkeit, dass Architekten die Verantwortung für das Baugeschehen als ihre ursächliche Aufgabe begreifen und die baukulturelle Entwicklung der Gesellschaft als selbstverständlich einfordern. Die Kompetenz der Architekten ist es, Architektur zu schaffen, die kulturelle Vielfalt und Ideenreichtum zeitbezogen ausdrückt.
Es ist Aufgabe der universitären Ausbildung, aus bewussten und mit der Sache vertrauten Menschen eine unbeirrbare, kulturelle Kraft zu formen. Es kann nicht sein, dass Großbüros, Generalplaner und Generalunternehmer die bauliche Zukunft dieser Welt bestimmen, indem sie ihre Duftmarken überall dort hinsetzen, wo man originelleres und engagierteres Bauen erwarten würde. Es ist einem kulturellen Verständnis von Entwicklung nicht zuzumuten, dass das architektonische Element im Baugeschehen in die zweite Reihe rutscht, oder überhaupt verloren geht.
Es soll sich niemand Architekt nennen dürfen, dessen Tun keine künstlerischen und ethischen Aspekte verfolgt. Es ist nicht akzeptabel, dass das, was entscheidend für die kulturelle Vitalität der Gesellschaft ist, aufgeht in einem Meer von Mittelmäßigkeit, Administration und Bürokratie. Die Faszination des Zukünftigen und Experimentellen ist neben allen funktionellen Notwendigkeiten das entscheidende Kriterium der Architektur. Es gibt kein Szenario in der Menschheitsgeschichte, in dem dies anders gewesen wäre.
es gibt so wenig architektur auf dieser welt, die es wert ist, bestaunt zu werden
Gedanken zum Wettbewerb Kunsthaus Graz aus Sicht der Jury, Graz, September 2003
Das Ergebnis eines Wettbewerbes ist zuletzt immer die Entscheidung einer Jury. Als weltoffener Architekt weiss man, dass in den seltensten Fällen das beste Projekt einen Wettbewerb gewinnt. Kompromiss, Lobbyismus und dieses perverse Machtgefühl, Großartiges verhindern zu können, sind jene Kriterien, die in keiner Ausschreibung genannt sind, dafür aber umso häufiger praktiziert werden.
Es gibt sie, die wenigen atemberaubenden Beispiele, die als Ausnahmen die Regel bestätigen. Dann spätestens fragt man sich, warum eigentlich das Mittelmaß unser Leben bestimmt? Warum man nicht nachhaltiger und offensiver und nicht schon immer das Außerordentliche und Unverwechselbare gefordert und gefördert hat? Das Leben wäre unvergleichlich spannender, erfüllter und ohne die unendliche Fadesse, die das ewig Gleiche und tausendmal Geprobte hinterlässt.
Es gäbe kein fantastisches Brasilia, wenn nicht eine revolutionäre Republik 1891 mehrheitlich den Bau der Hauptstadt in der Mitte des Landes, im Urwald, beschlossen hätte. Er erfolgte 70 Jahre später, geplant von den besten schöpferischen Kräften des Landes. Es gäbe kein Centre Pompidou in Paris, wenn nicht eine Jury ein Bekenntnis zur Zeit und zur Zukunft der Architektur abgelegt hätte. Es gäbe kein Guggenheim Museum in Bilbao, wenn nicht eine Stadt, wie keine andere vor ihr, in Kultur investiert und gewonnen hätte. Sie zeigte der Welt und den Ausstellungsmachern, dass moderne Kunst nicht nur in alten Gemäuern, Industriehallen und stillgelegten Schlachthöfen ausgestellt werden kann.
Es gäbe kein Kunsthaus Graz als Ereignis, wenn sich die Jury nicht einstimmig für ein Projekt entschieden hätte, das für viele nicht von dieser Welt schien. Etwas bisher nicht Bekanntes steht jetzt in der Stadt. Niemand weiß so recht, wie er damit umgehen soll – nicht einmal die, die dazu den Auftrag haben. Staunen darüber, was möglich ist und sich herausgefordert fühlen, bisher verschlossene Türen aufzustoßen, scheint mir ein adäquates Verhalten. Ist doch das Fremde ein Freund, den wir vor drei Jahren mit Juryentscheid nach Graz eingeladen hatten und der für manche noch rechtzeitig kam. Die Jury, das waren Odile Decq aus Paris, Dietmar Feichtinger aus Paris, Kasper König aus Frankfurt a. M., Harald Szeemann aus Zürich, Kjetil Thorsen aus Oslo, Dieter Bogner aus Wien, Wolfgang Lorenz aus Wien/Graz, Klaus Gartle aus Graz, Gerfried Sperl aus Wien und Rudolf Schilcher aus Graz – alle dem Projekt kongeniale Juroren. Ich bin stolz, eine Jury geleitet zu haben, deren Entschlossenheit und Mut, das Außergewöhnliche vor das hundertmal Akzeptierte zu stellen, an Hand der Verwirklichung eines großartigen Entwurfs dokumentiert ist.
Innerhalb der Jury wurden alle Entscheidungen nach Diskussion getroffen. Ich glaube, uns allen war klar, was für ein außerordentliches Projekt der Stadt zur Verwirklichung vorgeschlagen wurde. Die Statements der einzelnen Juroren – leider nicht dokumentiert – waren seltene Bekenntnisse zur kulturellen Identität als der einzigen, nicht verzichtbaren Größe in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit.
Gebaute Architektur ist nie das Werk eines Einzelnen. Sie ist immer das Werk von Vielen – und scheitert oft genug an dieser Tatsache. Die Jury des Wettbewerbes „Kunsthaus Graz“ hat die Absicht, für eine besondere Aufgabe ein besonderes Projekt auszuwählen, klar und eindeutig erfüllt – dankbar darüber, dass unter 102 eingereichten 9 preiswürdige Projekte waren, und eines darunter, das sich als ebenso eleganter wie eigenständiger Entwurf erwies. Politiker und Beamte der Stadt und des Landes sind nach zwei gescheiterten Versuchen über ihren Schatten gesprungen. Bekennermut und finanzielle Anstrengung haben sich ausgezahlt. Das Graz nach 2003 wird nicht das Graz vor 2003 sein. Das Kunsthaus ist dafür, à la longue gesehen, verantwortlich.
Schaut man vom Schlossberg auf dieses blaue Etwas, reibt man sich unwillkürlich die Augen. Nein, es ist nicht die Wüste, keine Fata Morgana – es ist Graz.
über mich und mein architekturbüro _realitätsverweigerer
Graz, ohne Zeitangabe
Die Architektur meines Büros ist in den Jahren, seit ich Professor an einer immer besser werdenden Universität bin, wesentlich geworden. Sie entzieht sich den streng funktionalen, konstruktiven, rationalen Vorstellungen von dem, was ist oder sein soll, sie formt sich ihre eigene Zukunft, beansprucht ihr eigenes Recht und ihre eigene Wirklichkeit. Ich bin älter geworden. Meine Architektur ist meine Zukunft.
Architektur ist ein nonverbales Medium. Nicht mehr reden wollen, einem geistig blinden Menschen nichts mehr erklären wollen, seine Würde durch Schweigen verteidigen.
Entweder wir regen uns furchtbar auf oder wir schweigen beharrlich. Jedenfalls ist es an der Zeit, keine Kompromisse mehr zu machen.
Realitätsverweigerer nennen mich meine Kollegen – und meinen das durchaus abwertend.
Ja, sage ich, die Realität, die ihr baut, die verweigere ich.
Diese und weitere Texte von Volker Giencke sind auch Bestandteil der von ./studio3 herausgegebenen Publikation „15 Jahre KONKRETE UTOPIEN – 15 Years TANGIBLE UTOPIAS“, die im Juni 2015 erscheinen wird.
Eine komplexe Raumtransformation von Volker Giencke anlässlich der Beendigung seiner Lehrtätigkeit an der Universtiät Innsbruck.
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