aut film: comizi d‘amore [gastmahl der liebe]
veranstaltungEin Dokumentarfilm von Pier Paolo Pasolini, der ein ungemein dichtes und und unvoreingenommenes Bild des im Wandel begriffenen Nachkriegsitalien vermittelt.
weiterlesen …Regie: Pier Paolo Pasolini. Italien. 1963. 90 min. SW. OmU
aus: Themenbereichl II - Urbanität & Ästhetik
Als anerkannter Schriftsteller, Filmemacher, Journalist und Zeitkritiker, als ungeliebter Provokateur, als unbequemer Homosexueller und als politisch engagierter Zeitgenosse, der keinem Tabuthema auswich, wurde Pier Paolo Pasolini (1922 - 1975) zu Beginn der 1960er Jahre eine öffentliche Streitfigur, an der die italienische Gesellschaft bewusst oder unbewusst die Probleme ihres Eintritts in die Moderne abhandelte.Pasolinis erster ausschließlich aus selbst gedrehtem Dokumentarfilmmaterial zusammengeschnittener Film war "La Rabbia / Die Wut (1962/63). Gleich nach dem Misserfolg von "La Rabbia" drehte Pasolini mit "Comizi d'Amore" wieder einen Dokumentarfilm - diesmal inspiriert von der Technik des "cinéma vérité" nach französischem Muster: Eine verfilmte Umfrage über die Sexualität der als heißblütig geltenden ItalienerInnen. Die Untersuchung sollte ursprünglich den Titel "Cento Paia Di Buoi" (etwa mit "Hundert Paar Rinder" zu übersetzen) tragen. Der Film erhielt dann aber den sanfteren Titel "Comizi d'Amore".
Eine Fahrt mit einem kleinen Stab an MitarbeiterInnen quer durch ganz Italien mit Filmkamera, Tonband und Mikrofon in der Hand. Pasolini fragte überall, quer durch alle Gesellschaftsschichten, was die Menschen - Künstler- bzw. Schriftstellerprominenz, Filmstars in Venedig, berühmte Fußballer des FC Bologna auf ihrem Trainingsplatz, einige alternde Huren von Neapel, arbeitende Bauern auf Feldern, sonnenhungrige Badeurlauber am Lido oder am Strand von Ostia, ernste Studenten/-innen und junge Fabrikarbeiter in Mailand - über Liebe, Eros und Leidenschaft dachten.
Die Filmreportage ist in Kapitel unterteilt, an deren Anfang jeweils der bekannte Psychologe Cesare Musatti und die beiden Doyens der italienischen Gegenwartsliteratur, Alberto Moravia und Giuseppe Ungaretti sowie die Star-Journalistin Oriana Fallaci befragt werden. Die Intellektuellen kommentieren, die Leute reden ohne Hemmungen über sich selbst. "Comizi d'Amore" ist ein unvoreingenommenes Abbild des Nachkriegitaliens im starkem Wandel - ein Muster für spätere Fernsehumfragen. Was beeindruckt, ist die Präsenz von Pasolini als bohrender Reporter selbst. Der Autorenfilm ist ein leidenschaftliches Selbstporträt und gleichzeitig ein Bekenntnis. Für Pasolinis treuer Produzent Alfredo Bini hatte der Film sogar einen nützlichen Nebeneffekt, nämlich Italien zu durchqueren auf der Suche nach einem geeigneten Drehort für das anstehende Evangelium-Filmprojekt. Nur so konnten von der Produktionsseite her die großen finanziellen Schwierigkeiten überwunden werden. Crotone, Matera und Massafra sind jene Orte, die ein wenig später im epischen Film "Matthäus Evangelium" vorkommen werden. Die Drehorte auf Sizilien, Kampanien, Lukanien, Kalabrien und Apulien wurden auf dieser abenteuerlichen Fahrt entdeckt. "Comizi d'Amore" ist aber auch das fotografische Einfangen unverbrauchter Gesichter und Körper des Landes, ist gleichzeitig „visuelles Experimentieren“ mit einer plastischen, ja malerischen Materie, die zur Nachzeichnung der Christus-Legende von Bedeutung sein sollte. Das "Mezzogiorno", der Süden Italiens also, wurde wegen seiner kargen ästhetischen Erscheinung so zum Landschaftssynonym für Judäa und Galiläa eines vormodernen Zeitalters. "Comizi d'Amore" ist erst der Anfang von Pasolinis mythologisch motiviertem "Neorealismo" seiner Spätwerke.
Ein Text von Helmut Weihsmann
Ein Dokumentarfilm von Pier Paolo Pasolini, der ein ungemein dichtes und und unvoreingenommenes Bild des im Wandel begriffenen Nachkriegsitalien vermittelt.
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