frei otto, rudolf finsterwalder: der umgekehrte weg
auszug aus zwei gesprächen zwischen frei otto und rudolf finsterwalder, erschienen in aut: info nr. 1/2013
auszug aus zwei gesprächen zwischen Frei Otto und Rudolf Finsterwalder, geführt am 28. März und am 26. Oktober 2008 erstveröffentlichung t in „Form Follows Nature“, Springer Verlag Wien NewYork, 2011
rudolf finsterwalder Walter Bauersfeld hat zusammen mit Ulrich Finsterwalder für das Zeiss-Planetarium in Jena eine Konstruktion, eine Gitterschale wie die geodätische Kuppel Buckminster Fullers erdacht, nur 30 Jahre früher. frei otto Die Kuppel wurde Mitte der 20er Jahre gebaut. Der Auftrag war, die steife Innenfläche einer perfekten Kugelschale zu bauen. Eine Kugelschale ist nicht die perfekteste Konstruktion. Die annähernd perfekte Kugelform entsteht in der nicht lebenden Natur nur im Bereich von Flüssigkeit begrenzenden Membranen, wie z. B. beim frei schwebenden Wassertropfen oder dem Luftbläschen im Wasser. Die Jenaer Gitterschale ist ein hoch komplexes menschengemachtes Konstrukt, das aber Verwandtschaft zu den Radiolarien in der Natur hat. rudolf finsterwalder Welche Erkenntnisse gab es aus der Beschäftigung mit der lebenden und der nicht lebenden Natur? frei otto Uns interessieren Prozesse, die mit der Gestaltentstehung in der nicht lebenden und in der lebenden Natur zu tun haben, die von Schwerkraft, Festigkeit und tragfähigen Konstruktionen abhängen und zusammenhängen, wobei unser Augenmerk gleichen und ähnlichen Entwicklungsprozessen galt, die in der nicht lebenden und in der lebenden Natur beobachtbar sind. Und wir fanden eine Reihe von vergleichbaren Prozessen, die durchaus als Gedankenmodelle für die bekanntesten Gestalten und Strukturen nicht lebender und lebender Objekte dienen können. rudolf finsterwalder Was ist Dein Naturverständnis, Dein Verhältnis zur Natur? frei otto Ich war immer auf der beobachtenden Seite und habe dabei technische Erfindungen in der Natur wiedergefunden. Natur ist ja äußerst komplex. Die Entwicklung der lebenden Natur erfährt seit 4,5 Milliarden Jahren bis heute tägliche Veränderungen, die nicht immer als Optimierungen angesehen werden können. Ich glaube nicht, dass die lebenden Objekte in sich optimal sind. Manche glauben, dass sie sich ganz bestimmten Aufgaben manchmal angenähert haben. Doch wenn man sie einfach nachmacht, steht die Lösung oft nicht in Beziehung zur ursprünglichen Aufgabe. Wir haben einen Sonderforschungsbereich gegründet, um solchen Phänomenen nachzugehen. rudolf finsterwalder Die Ursprünge der Architektur und des Konstruierens waren nicht getrennt. frei otto Für mich ist die Geschichte des Konstruierens wichtiger als die Architekturgeschichte. Architektur ist vom Menschen durch Konstruktion in Form gebrachtes Material. Denn sehr früh war der Wille des Menschen zur Form da. Bei der Realisierung entstand dann der Konflikt mit der Herstellung und den Materialien. Später kam das Wissen über das Material, das sowohl aus der nicht lebenden als auch aus der lebenden Natur genommen wurde. Beim Beginn unserer Arbeiten waren die Bildungsprozesse bei der Entstehung von Formen und Konstruktionen im Bereich der nicht lebenden Natur viel weniger erforscht als die in der lebenden Natur. Deshalb haben wir unsere Forschungen zunächst hauptsächlich auf Objekte der nicht lebenden Natur konzentriert. Zum Beispiel hat ein Wassertropfen – ob aufliegend oder hängend – eine bestimmte Form. Wenn er größer wird, tropft er ab und ist dann nur in dieser Kugelform existent. Die Formen der nicht lebenden Natur findet man auch in der lebenden Natur, die alle Entstehungsprozesse der Formen der nicht lebenden Natur nutzt. Keine Maus gräbt eine Höhle, die dauernd einfällt. Sie nutzt die Bildungsprozesse der nicht lebenden Natur. rudolf finsterwalder Du hast so ephemere Dinge wie Wassertropfen untersucht und daraus Erkenntnisse für Bauwerke und Konstruktionen gewonnen. frei otto Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, dass nicht nur die Oberflächenspannung eine Form bestimmt, sondern dass es vor allem echte Netze sind, die die Gestalt in der lebenden Natur bewirken. Eine der vielen Fragen, die sich heute stellen, ist die, ob die DNA dieses Netz direkt ist oder nur ein Element dieses Netzes ist. Diese Gedanken habe ich in einem kleinen Buch skizziert („Das Netz der lebenden Gestalt“). Erst wenn man sich mit Konstruktionen, also zusammengesetzten Strukturen intensiv beschäftigt hat, kann man Entstehungsprozesse in nicht lebender und auch in lebender Natur erkennen, untersuchen und vergleichen. Ohne die Selbstbildungsprozesse der nicht lebenden Natur ist auch die lebende Natur nicht denkbar. rudolf finsterwalder Ein altes Thema ist die Abgrenzung zwischen Natur und Mensch. Wie stehst Du dazu? frei otto Es gibt keine klar definierbare Abgrenzung zwischen Natur und Mensch. Ich habe Hemmungen, wenn alle sagen: die Millionen Jahre Entwicklungszeit der lebenden Natur brauchen wir nur zu nutzen und schon haben wir eine bessere Umwelt. Unsere Zeit ist gefärbt durch die Worte Ökologie und Nachhaltigkeit. Der früheste Ursprung des Wortes Nachhaltigkeit stammt von einem Oberforstmeister, der bei August dem Starken arbeitete. Er hatte Holz an die Bergwerke zu liefern und hatte beim König durchgesetzt, dass nur so viel Holz geschlagen wird wie nachwächst, d. h. wie nachgehalten werden kann. Ich werde in aller Welt in allen Literaturen zur Bionik als Kronzeuge angeführt, weil man sich einfach nicht vorstellen kann, dass sich zwar bei manchen meiner leichten Bauten zu Objekten der lebenden Natur eine formale Analogie aufdrängt, dass sie aber ohne Vorbild entwickelt wurden und Ähnlichkeiten in der Natur nachträglich festgestellt wurden. Ich finde es wichtig, Begriffe wie Ökologie oder Nachhaltigkeit und auch den Modebegriff Bionik genauer zu hinterfragen und auch die Meinung, dass man lebende Objekte als Vorbilder für menschliche Konstruktionen nutzbringend verwenden kann, was manchmal möglich ist. rudolf finsterwalder Warum glaubst Du, wird Deine Arbeit so wenig fortgeführt, in meinen Augen viel zu wenig? frei otto Die meisten Architekten wollen heute bauen, Ideen verwenden und sie nicht wissenschaftlich weiter führen. Sie scheuen den mühseligen Weg der Forschung. rudolf finsterwalder Unglaublich wie Du München oder Montreal realisieren konntest, das war ja wirklich ein revolutionärer Ansatz damals. frei otto Wir stellten der Fachwelt zum ersten Mal weit spannende wetterfeste textile Konstruktionen vor als Fortführung des uralten Zeltbaus. Mit einem guten Team von Architekten, Ingenieuren und Ausführenden. Zeltbauten sind in ihrer Tragwirkung auch als Schalen anzusprechen, die jedoch durch ihre Neigung zum Ausknicken und Beulen größere Schwierigkeiten beim Bau machen. Lange Zeit meinte man, dass der hyperbolische Paraboloid die Lösung sei, bis ich entdeckte, dass entlang der so genannten geraden Erzeugenden die Schwachstelle liegt, die wir nun mit dem sog. Kontinuum vermieden haben, d. h. mit einem Objekt, das an jeder Stelle gekrümmt ist, obwohl eine Sattelfläche an zwei Linien gerade Schnitte hat. Meine erste Realisation einer weit spannenden echten Schale war die Multihalle Mannheim. Die Tendenz zur Selbsterzeugung der Form ist schwer zu verstehen. Es gehört beinahe ein Lebenswerk dazu, um die Natürlichkeit der Schale zu begreifen, die das Ergebnis eines Prozesses ist. rudolf finsterwalder Die Konstruktion ist so weit entwickelt, dass man erwarten muss, dass sie noch in der nicht lebenden Natur zu finden ist. frei otto Ja, besonders da sie eine sehr wirtschaftliche Lösung ist, kann man erwarten, dass sie in der lebenden Natur noch gefunden wird. Mit dieser Vermutung stehen wir am Anfang einer neuen Erkenntnisgeschichte, die auch die Beziehung zur Ästhetik mit einbezieht. Man kann nicht einfach sagen: folgt den Formen der Natur, dann macht ihr schöne Bauten. Der Unterschied zwischen Design und Architektur ist ja seit den 1920er Jahren ein Thema. Am Ende einer ehrlichen, funktionalen Arbeit kann durchaus ein Objekt stehen, das als schön empfunden wird. Das ästhetische Element kann man nicht direkt planen, denn eine ästhetische Form steht am Ende eines Prozesses. Allein mit dem Willen zur Schönheit wird man sie nicht erreichen. Wenn wir ehrlich gearbeitet haben, bekommen wir sie manchmal geschenkt. rudolf finsterwalder Mies van der Rohe hat keine konstruktive Ehrlichkeit propagiert und sich dennoch intensiv damit auseinander gesetzt. frei otto Beim Thema der Architekturbetrachtung interessiert mich vor allem die Frage was gut ist und ob die Begriffe schön und gut voneinander abhängen, weniger der alte Leitsatz: „form follows function“. An den amerikanischen Unis endet eine Diskussion oft mit dem nicht zu widersprechenden „but I like it“. Es hat viele Lehrer gegeben, die dieses Mögen auf ihre Fahne schrieben, so auch Yamasaki, der wie ich 1958 an der Washington University in St. Louis lehrte. Ich habe mich damals mit Yamasaki über technische und auch ästhetische Schwächen der Entwurfsmodelle für die Türme des World Trade Centers in New York gestritten, woran ich nach dem Einsturz sehr denken musste. Mit dem Einsturz war die Architekturbetrachtungsweise „I like it“ beendet. rudolf finsterwalder Hegel sah in der Symmetrie und Harmonie der Natur das Maximum an Schönheit, Adorno im Gegensatz dazu in einer zufälligen Störung der Perfektion. frei otto Zur Symmetrie ist schon einiges zu sagen. Es hat darüber ein großes Symposium in Darmstadt gegeben. Für Design und Architektur hatte der Kunsthistoriker Gombrich den Hauptpart übernommen. Sein Hauptwerk heißt: „the sense of order“. Er vertrat die Meinung, dass die Symmetrie in der Architektur deshalb einen Sinn hat, weil man sich die Form besser merken kann. Ich sehe einen Sinn der Symmetrie eher in der Funktions- und Reproduktionsbiologie. Wenn z. B. das ursprünglich asymmetrische Erscheinungsbild eines Säugetieres aus der Sicht eines anderen Tieres plötzlich symmetrisch wird, löst es höchste Aufmerksamkeit aus, weil es als männliches Tier möglicherweise in Angriffsposition gegangen ist oder als ein weibliches Tier gerade empfangsbereit ist. Und umgekehrt bewirken die nackten asymmetrischen Gestalten im Tympanon des völlig symmetrischen griechischen Tempels höchste Aufmerksamkeit. Symmetrie in der Bedeutung von Gleichmaß tritt in der Architektur in unzähligen Varianten auf. Exaktes Gleichmaß macht sie langweilig. Gombrich wollte darauf hinaus, dass in der Architektur immer wieder versucht wird, mit Symmetrie Erfolg zu haben, dass es aber die alte Kunst ist, immer wieder Asymmetrie hineinzubringen wie z. B. beim Tympanon. Bei asymmetrischen Membranbauten oder -netzen spielen Ungenauigkeiten eine geringere Rolle als bei symmetrischen. Bei einer Form wie dem Tanzbrunnen z. B., der sechs Spiegelachsen hat und damit zwölf Teile, kann sich ein kleiner Fehler im Zuschnitt zu einem fatalen Fehler im Gesamten addieren. Von mir hatte man für den Tanzbrunnen einen asymmetrischen Entwurf erwartet, der der damaligen Mode der organischen Architektur gefolgt wäre. Dennoch haben wir uns für einen symmetrischen Entwurf entschieden, der weniger Planungsaufwand verlangt als ein asymmetrischer. Heute bin ich der Meinung, dass die Symmetrie bei meinen wichtigsten Bauten dieser Zeit, dem Eingangsbogen und dem Tanzbrunnen, richtig war. Es gibt Gründe für die Symmetrie, die man nicht vernachlässigen sollte. Bei der Entscheidung für oder gegen Symmetrie spielt die Herstellungsmethode eine wichtige Rolle. Menschliche Funktionen zwingen selten zur Symmetrie, menschliche Bedürfnisse verlangen keine perfekte Symmetrie an Bauten, wohl aber zuweilen eine gewisse Dosierung von Gleichmaß. Das Spiel zwischen Asymmetrie und Symmetrie oder Gleichmaß bleibt interessant und ist Basis des Entwerfens von Architektur. rudolf finsterwalder Gibt es heute ähnliche Einrichtungen wie das Institut für leichte Flächentragwerke? frei otto Eigentlich nicht. Man muss auch den Mut zum Fehler haben. Wenn etwas mehr als zur Hälfte richtig ist, dann lohnt es sich weiter zu arbeiten. Es gab aber schon einen langen Entwicklungsgang vor unseren Forschungen. Ursprünge sind tausende Jahre alt.
Eine Ausstellung mit Arbeiten von Frei Otto, Carsten Nicolai und Finsterwalder Architekten, die zeigen, wie eine reflektierte Auseinandersetzung mit der Natur Inspirationsquelle für Formen, Techniken und Strukturen sein kann.
Ein von Rudolf Finsterwalder moderiertes Gespräch mit Frei Otto über dessen Forschungen und Themen wie Bionik, Nachhaltigkeit und die Zukunft der Architektur.
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