rainer köberl: der bogen von guarda und der stadtgrundriss von chandigarh
Guarda liegt im Engadin auf 1.653 Meter Seehöhe, hoch oben über Ardez am Südhang und am ursprünglichen Verbindungsweg vom Comersee nach Innsbruck. Dort am flacheren Teil des Weges hatten sich die Gehöfte langsam immer mehr verdichtet. Sie stehen immer einzeln, bilden keine strenge Reihe, keine Straßenflucht, sondern berühren sich hin und wieder ein wenig mit ihren Schultern, so dass man aus jedem Gebäude einer Gruppe zu einem großen wasserspendenden Brunnen schauen kann.
Die großen, eher „groben“ hölzernen Wirtschaftsräume richten sich nach außen hin zur Landschaft und die „feinen“ Wohnräume in den verputzen und mit Sgrafitti geschmückten Körpern schauen in den öffentlichen Raum des Dorfes. Es entstanden helle, „sonnigere“ Häuser an der Nordseite des Dorfkerns und dunkle, „schattigere“ an dessen Südseite. Wir finden Häuser, die parallel oder senkrecht zum Hang stehen, finden verschiedene Haustypen – wie Herbergen und Bauernhäuser, in eher groben oder auch feinen Variationen.
Im oberen Drittel des Dorfes stößt man auf einen mit gemalten „Ornamenten“ umrahmten Torbogen. Es ist fast so, als ob dieser Bogen vom Dorf erzählt. Wie einzelne Steine sind diese Felder um den Bogen angeordnet, auch ein deutlicher Schlussstein ist gemalt. Innerhalb dieser Felder wird das Einzelornament durch die Teilung der Fläche in sechs Streifen gebildet, die von den Diagonalen überlagert und durch kleine Halbkreise am Rand der Streifen ergänzt werden. Die entstehenden Teilflächen wurden entweder leer gelassen oder ausgemalt.
Innerhalb der Grundstruktur bzw. der Anordnung der einzelnen Steine herrscht – wie im Dorf – ein Prinzip: Das äußerste Feld dunkel – das Innere hell. Zwischen diesen Elementen werden die zahlreichen Möglichkeiten, die in der Struktur angelegt sind, auf unterschiedlichste Weise variiert. In der rechten Bogenhälfte sieht man mehr dunkle, in der linken mehr helle Steine. In der rechten, dunkleren Hälfte kann man vier gleiche Steine hintereinander erkennen, in der linken, der helleren Hälfte, wohl vier im Innenbereich gleiche Steine, die sich voneinander jedoch in den halbrunden Randfeldern unterscheiden – auch bilden sie hier keinen geschlossenen Block. In dieser Hälfte liegt auch der hellste Stein der beiden Seiten. Das Feld rechts des Schlusssteins scheint eine „falsche“ Entscheidung zu vermitteln – „eine Übermalung eines falsch gesetzten Mittelfeldes“ – aber war es denn wirklich ein Fehler oder wollte der Maler vielleicht etwas „sagen“?
Als ich diesen Bogen vor einigen Jahren zeichnete, spazierte ein älterer Herr vorbei, von dem sich später herausstellte, dass er aus der bekannten Familie Könz aus Guarda stammte, die alle entweder Künstler, Architekten oder Sgraffitomaler waren. Er erzählte mir im Laufe unseres Gesprächs, dass Le Corbusier 1945 gemeinsam mit seinem Freund Jean Dubuffet hier in Guarda war und dieses Ornament mit Transparentpapier „abgepaust“ habe. Wie man offensichtlich erkennen könne, merkte er an, ist der Stadtgrundriss von Chandigarh damit verwandt.
Nach einer Weile in Guarda sollte man noch hinauf ins Tuoital gehen, auf den hellen Sattel zu, der vom dunklen „Piz Buin“ bewacht wird. Sitzt man dann vor der Alp Suot und schaut zurück, wird man diese symmetrische Asymmetrie des Bogens wiederfinden.
Ganz zufällig im Zuge der Recherche gefunden:
Heuer im Frühjahr veranstaltete das Zentrum Architektur Zürich ZAZ BELLERIVE einen Vortrag mit Diskussion unter anderem zum Thema des Besuchs Le Corbusiers in Guarda und dem dort entstandenen Streit mit Jachen Ulrich Könz, dem verantwortlichen Architekten für den Wiederaufbau und Erhalt von Guarda. Der Inhalt des Streits ist nicht wirklich genau bekannt, wurde jedoch wohl bei dieser Veranstaltung diskutiert. Ich fand dazu keinerlei Informationen.
>> https://www.zaz-bellerive.ch/ilovechalets-2-2/
Text: Rainer Köberl, aus aut: info 2/25