widerstand und wandel. über die 1970er-jahre in tirol
eröffnungEröffnung einer Ausstellung über die architektonische, kulturelle und gesellschaftspolitische Aufbruchstimmung eines Jahrzehnts,
weiterlesen …Nachdem die Ausstellung als Maßnahme gegen die Ausbreitung von COVID-19 (Coronavirus) zwischen 16. März und 2. Juni 2020 nicht besucht werden konnte, wurden in dieser Zeit Teile der Ausstellung und Auszüge aus der Begleitpublikation online zugänglich gemacht.
>> zur online-Ausstellung
„In den USA, Großbritannien, Frankreich, Skandinavien und auch in Westdeutschland herrschte von 1945 bis in die 1970er-Jahre hinein quer zu den Differenzen zwischen Sozialdemokraten und Konservativen eine Art stillschweigender Konsens: Das übergreifende politische Paradigma, das hier galt, setzte massiv auf nationale Ordnungsbildung, auf sozioökonomische, aber auch auf kulturelle Regulierung. Nationale, keynesianische Wirtschaftssteuerung und Sozialstaat, Verbändedemokratie, gleicher Lebensstandard für alle waren die Maximen. Dieses Regulierungsparadigma hatte auch eine kulturelle Dimension, die auf Gemeinschaft und das Kollektiv setzte. […] Es war ein erfolgreiches Paradigma, welches Massenwohlstand und sozialen Zusammenhalt sicherte – dann jedoch geriet es in eine tiefgreifende Krise und kollabierte innerhalb eines Jahrzehnts. Diese Krise ist lehrreich, weil wir uns gegenwärtig in einer ähnlichen Konstellation befinden.“ (Andreas Reckwitz)
Die 1970er-Jahre sind eine Zeit des Umbruchs und der gesellschaftlichen Veränderungen, in der man an eine „fortschrittliche“ Zukunft glaubte und unterschiedliche Visionen von einer besseren Welt formulierte: Es wurden Bildung, Kultur und Arbeit für alle gefordert, eine antiautoritäre Erziehung und offene Jugendkultur propagiert, soziale Experimente sowie partizipative Prozesse ausprobiert und alternative Lebensformen entwickelt. Gleichzeitig war es aber auch eine Dekade der wirtschaftlichen Krisen, der kalten und heißen Kriege sowie der nazistischen und faschistischen Kontinuitäten.
In Österreich ist dieses Jahrzehnt politisch untrennbar mit Bruno Kreisky verbunden, der von 1970 bis 1983 Bundeskanzler war und das Land durch soziale und gesellschaftspolitische Reformen auf mehreren Ebenen öffnete. 1978 allerdings endete die Diskussion um das Kernkraftwerk Zwentendorf bei der Volksabstimmung mit einer Niederlage von Bruno Kreisky und nur wenige Jahre später erfolgte die Besetzung der Hainburger Au, die sowohl umwelt- als auch demokratiepolitisch eine Zäsur darstellte.
In Tirol „herrschten“ Eduard Wallnöfer, der als Landeshauptmann mit absoluter Mehrheit von 1963 bis 1987 regierte, und Alois Lugger, der von 1956 bis 1983 Bürgermeister von Innsbruck war und damit auch die beiden Olympischen Winterspiele 1964 und 1976 mitverantwortete. Das gesellschaftliche und kulturelle Selbstverständnis Tirols gründete sich nach dem Zweiten Weltkrieg stark auf traditionelle und historisch gewachsene Werte: Katholizismus, Konservativismus, Patriotismus und die damit eng verknüpfte Heimatverbundenheit. Das Institut Français, das Europäische Forum Alpbach und die ab 1950 durchgeführten Jugendkulturwochen brachten eine gewisse Öffnung und Internationalisierung der kulturellen Debatte und Praxis, die ab 1965 auch vom „liberalen“ Landesrat für Kultur, Fritz Prior, politisch und finanziell unterstützt wurde. Durch die Gründungen „kultureller Orte“ wie der Galerie im Taxispalais, der Galerie Krinzinger, des Forum für aktuelle Kunst, des Theaters am Landhausplatz, des KOMM und des Otto-Preminger-Instituts in Innsbruck bzw. der Galerie Eremitage in Schwaz, der Galerie St. Barbara in Hall i. T. und der Galerie Elefant in Landeck begann sich ab Mitte der 1960er-Jahre die „mentale“ Landschaft in Tirol zu verändern. Daneben positionierten sich die von Wolfgang Pfaundler herausgegebene Zeitschrift „Das Fenster“ und die von Krista Hauser ab Anfang der 1970er-Jahre redaktionell betreute Beilage „Horizont“ der Tiroler Tageszeitung als Sprachrohr einer kritischen kulturellen Szene. Und auch in der Musikszene, in der Jugendkultur, im Theater, im Sozialbereich und in der Frauenbewegung war diese Aufbruchstimmung spürbar.
Die Architektur jener Zeit war geprägt von Amtsplanungen oder rein funktionalistischen Bauten, die entweder in traditionellen oder modernistischen Klischees gefangen waren. Nur in seltenen Fällen konnten engagierte Architekten ihre Vorstellungen umsetzen, wie Josef Lackner, Horst Parson oder Norbert Heltschl. Zu den größten Büros zählte das im Kreis der Architekten nicht unumstrittene von Hubert Prachensky und das von Fred Achammer, in denen etliche später bekannte Architekten erste Berufserfahrungen sammelten. Diese Generation von ArchitektInnen, die zuvor in Wien an der Technischen Universität bzw. bei Roland Rainer an der Akademie der bildenden Künste oder in Graz studiert hatten, begann zunächst vor allem mit Einfamilienhäusern oder im Rahmen von Wettbewerben ihre Vorstellungen von zeitgemäßer Architektur und Städtebau in die konservative Landschaft Tirols zu bringen. Besonders wichtig waren dabei die Wettbewerbe „Wohnen Morgen“, die vom Bundesministerium für Bauten und Technik in allen Bundesländern ausgelobt wurden und bei denen sowohl neue städtebauliche Ansätze als auch innovative Wohnkonzepte entwickelt wurden. Auch im Schulbau versuchte man, die pädagogischen Überlegungen der Zeit in entsprechende Raumkonzepte zu übersetzen, wie etwa bei den beiden Modellschulen in Wörgl und Imst, bei denen auch Methoden und Systeme der Vorfertigung erprobt wurden. Nicht zuletzt war es die neugegründete, 1970 eröffnete Fakultät für Bauingenieurwesen und Architektur an der Universität Innsbruck, die einen wesentlichen Impuls für die weitere Entwicklung der Baukultur in Tirol setzte.
Die Ausstellung „widerstand und wandel“ möchte diesen Zeitraum und die architektonische, kulturelle, aber auch soziale Aufbruchstimmung in den 1970er-Jahren sichtbar machen. Zum einen werden ausgewählte Projekte aus den Bereichen Wohnen, Schulbau, Kirchen und typologische „Zeitzeugen“ vorgestellt, zum anderen wird das kultur- und gesellschaftspolitische Umfeld anhand einer Synchronopse vermittelt, die lokale und nationale Entwicklungen mit dem „Weltgeschehen“ verbindet und in die Bücher, Plakate, Kunstwerke, Fotografien, Filme und Hörbeispiele eingewoben sind. Ergänzt wird die Ausstellung durch Interviews mit Maria und Gerhard Crepaz, Arnold Klotz, Krista Novak-Hauser, Norbert Pleifer, Peter Quehenberger, Vroni und Jussuf Windischer sowie Dietmar Zingl – Persönlichkeiten, die den kulturellen Aufbruch initiiert und mitgetragen haben.
Zur Ausstellung erscheint eine umfangreiche Begleitpublikation, in der über zwanzig AutorInnen unterschiedlichste Themen aufarbeiteten und für die Günter Richard Wett 27 zentrale Bauten in ihrem heutigen Zustand dokumentierte. Bei Vorträgen u. a. von Günther Feuerstein, Eilfried Huth, Wolfgang Kos, Peter Noever und Anton Pelinka, bei zwei „nimm 3“-Abenden mit Andreas Egger, Siegbert Haas, Dieter Tuscher, Hermann Kastner, Helmut Ohnmacht und Charly Pfeifle, bei einem Spaziergang zu Einfamilienhäusern in Sistrans sowie bei „Vor Ort“-Gesprächen in den Schulen in Vomp, Wörgl und St. Johann steht auch das Rahmenprogramm bis Juni ganz im Zeichen der 1970er-Jahre. Außerdem wird in Zusammenarbeit mit dem bilding ein spezielles Vermittlungsangebot für Schulen diese Zeit des Widerstands und Wandels für die junge Generation greifbar machen.
>> Zur Publikation "Widerstand und Wandel. Über die 1970er-Jahre i Tirol"
Kinospot zur Ausstellung (Musik: Klockwerk Orange, DuonyunohedeprincesR, 1974
Fotocredits: W. Albrecht, Stadtarchiv Innsbruck , frischauf-bild, Sammlung A. Dornauer, Nachlass A. Zelger, H. Ohnmacht, FI Archiv für Baukunst der Universität Innsbruck, W. Bruch, Subkulturarchiv Innsbruck, Archiv AEP, Horizont/TT, Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Digatone, N. Pleifer, Th. Moser)
schulen
- Viktor Hufnagl und Fritz Gerhard Mayr, Modellschule Wörgl, 1969 – 73
- Franz Kiener und Ferdinand Kitt, Modellschule Imst, 1970 – 73
- Günther Norer mit Margarethe Heubacher-Sentobe, Volksschule Vomp, 1972 – 74
- Ekkehard Hörmann, Aufstockung Handelsakademie, Innsbruck, 1971 – 77
- Josef Lackner, Schule der Ursulinen, Innsbruck, 1971 – 79
- Team A Graz, Doppelhauptschule, St. Johann in Tirol, 1974 – 79
- Othmar Barth, Schigymnasium, Internatsschule mit Heim für Schisportler Stams, 1974 – 82
wohnen
- Josef Lackner, Grottenbad Flora, Innsbruck, 1969 – 70 (2018 zerstört)
- Franz Kotek, Wohnanlage Mariahilfpark, Innsbruck, 1969 – 73
- Hanno Schlögl mit Dieter Mathoi, Haus Markl, Sistrans, 1971 – 73
- Norbert Heltschl, Terrassenhausanlage Hötting, Innsbruck, 1968 – 74
- Atelier Mühlau (Andreas Egger, Hanno Schlögl, Heinz Pedrini), Terrassenwohnanlage Sonnleitn, Innsbruck, 1972 – 75
- Heinz Tesar, Ton-Studio Theo Peer, Steinach am Brenner, 1974 – 77
- Carl Pruscha, Haus Strickner, Sistrans, 1976 – 77
- Josef Lackner, Haus Maier, Hatting, 1976 – 77
- Norbert Heltschl, Josef Lackner, Horst Parson und Anton Klieber, Arzbergsiedlung, Telfs, 1975 – 81
- Jörg Streli, Haus P., Telfs, 1977 – 82
- Andreas Egger, Reihenhausanlage Vill, 1979 – 82
- Atelier Pontiller-Swienty, Kommunikative Ulfiswiese, Innsbruck, 1981 – 83
"typologische zeitzeugen"
- Helmut Ohnmacht, Polybiwak, Neuaufstellung Glungezer, 2016
- Horst Parson, Pfarrkirche Petrus Canisius, Innsbruck, 1969 – 71
- Josef Lackner, Kirche St. Norbert, Innsbruck, 1969 – 71
- Gustav Peichl, ORF-Landesstudio Tirol, Innsbruck, 1969 – 72
- Ernst Heiss, Hubert Prachensky mit Michael Prachensky, Sport- und Kulturzentrum, Seefeld, 1973 – 75
- Hubert Prachensky und Ernst Heiss, Lüftungsanlagen Arlbergstraßentunnel, Maienwasen und Portal St. Jakob, 1975
- Hermann Leitgeb, Otto Mayr, Hubert Prachensky und Hans Rauth, Fernheizwerk Innsbruck, 1972 – 77
- Horst Parson, Auferstehungskirche Neu-Rum, Rum, 1976 – 78
gerhard und maria crepaz
seit 1972 Leitung der Galerie St. Barbara, Hall
>> zum Video
arnold klotz
1974 – 91 Vorstand des Stadtplanungsamts, Innsbruck
>> zum Video
krista hauser-nowak
1972 – 81 Chefredakteurin der TT-Beilage „Horizont“
>> zum Video
norbert pleifer
1978 Mitbegründer des KOMM, seit 1981 Treibhaus
>> zum Video
peter quehenberger
seit 1975 freier Musikkritiker und Kulturberichterstatter
>> zum Video
jussuf und vroni windischer
1972 – 78 Geschäftsführer bzw. 1976 – 77 Erzieherin, Jugendzentrum z6
>> zum Video
dietmar zingl
seit 1981 Geschäftsführer des Otto Preminger Instituts
>> zum Video
Eine Ausstellung mit freundlicher Unterstützung von Bundeskanzleramt Kunstsektion, Amt der Tiroler Landesregierung – Abteilung Kultur, Stadt Innsbruck und Klocker Stiftung
Eröffnung einer Ausstellung über die architektonische, kulturelle und gesellschaftspolitische Aufbruchstimmung eines Jahrzehnts,
weiterlesen …Ab 3. Juni wieder geöffnet: Eine Ausstellung über die architektonische, kulturelle und gesellschaftspolitische Aufbruchstimmung eines Jahrzehnts, das von Umbrüchen und Veränderungen geprägt ist, die bis heute nachwirken.
weiterlesen …Eine anlässlich der 2020 im aut gezeigten Ausstellung "widerstand und wandel. über die 1970er-jahre in tirol" erschienene Publikation über die Aufbruchstimmung eines Jahrzehnts. Preis: Euro 38,00 (zuzüglich Versandspesen)
weiterlesen …Überblick über das ganz im Zeichen der 1970er-Jahre stehende Rahmenprogramm zur Ausstellung "widerstand und wandel. über die 1970er-jahre in tirol".
weiterlesen …Die Ausgabe 1/20 der Programmzeitschrift aut: info mit Hintergrundinformationen zur Ausstellung "Widerstand und Wandel. Über die 1970er-Jahre in Tirol" und zum Programm des aut zwischen Feber und Juni 2020.
weiterlesen …